22.10.2025

Anaïs Clerc, Nadine Gautschi

«Es gibt keine weinenden Männer in dieser Familie»
Be Funky collage 8

Was bedeutet für Autor*innen Gegenwart? Wie kann die heutige Welt beschrieben oder kommentiert werden? Welche Themen und Stoffe drängen sich auf und lassen sich zudem auf einer Bühne verhandeln? Fragen, die sich das Theater Winkelwiese als Zentrum für zeitgenössische Dramatik fortan stellt und gemeinsam mit Schreibenden und dem Publikum in der Diskussionsreihe Zeitgenoss*innen debattiert.

In der siebten Veranstaltung dieser Reihe unterhielt sich die Autorin Anaïs Clerc mit der Sozialwissenschaftlerin Dr. Nadine Gautschi über die fürsorgerischen Zwangsmassnahmen in der Schweiz, deren Aufarbeitung im Theater und die Herausforderung, biografische Themen auf die Bühne zu bringen. (Das Gespräch fand im Anschluss an die Vorstellung brennendes haus vom 09.06.2025 statt und wird hier in Ausschnitten wiedergegeben.)

Dr. Nadine Gautschi: Ich habe meine Doktorarbeit über das Schweigen geschrieben. Konkret: das Schweigen über die fürsorgerischen Zwangsmassnahmen in der Schweiz. Dazu gehören auch die Verdingkindergeschichten, von denen im Stück brennendes haus die Rede ist. Bis in die 1970er Jahre war die Praxis der Verdingung sehr verbreitet in der Schweiz. Nicht nur Verdingungen, sondern auch Platzierungen von Kindern und Jugendlichen in Pflegefamilien, aber auch in Institutionen wie Nacherziehungsheime, Jugendheime, Zwangsarbeitsanstalten, Psychiatrien und auch Strafanstalten oder andere meist geschlossene Institutionen. Schätzungen zufolge wurden bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts immer noch um die 100.000 Kinder und Jugendliche ausserhalb ihrer Familien platziert. (...) Anaïs, wie bist du zu dieser Thematik gekommen?

Anaïs Clerc: Die Wiedergutmachungsinitiative (ab 2013) kam ja auch wegen des Spielfilms zustande, der 2011 veröffentlicht wurde: „Der Verdingbub“ von Markus Imboden. Max Hubacher, der Hauptdarsteller, war damals mit mir in einer Klasse. Ich hab den Film gesehen habe das meiner Mutter erzählt und sie sagte: „Frag mal meinen Vater danach!“ Vorher habe ich darüber sehr wenig gewusst. Ich wusste, dass es da gewisse Geheimnisse gab, und dass die Kirche eine sehr grosse Rolle gespielt hat. Aber auch, dass nicht darüber geredet wird – oder wenn sehr wenige Antworten kommen. Und danach habe ich das mehr eingefordert, weil ich fand, dass es durch diese neue Öffentlichkeit eine grössere Berechtigung gab, danach zu fragen. - Das hat sicher auch mit dem eigenen Alter zu tun.

NG: Bei meinen Interviews war es oft so, dass die Nachkommen auch auf Widerstand gestossen sind – dass zum Teil gesagt wurde „ich weiss nicht, wovon du sprichst“ oder „das hat mit mir nichts zu tun“. Kennst du das?

AC: Ja, das kenne ich sehr gut. Das ist ein Thema, da habe auch ich mir sehr viele Informationen zusammensuchen müssen. Ich will aber auch betonen, dass alles (im Stück brennendes haus) persönlich ist, aber nicht privat. Es gibt Dinge, die dazu erfunden worden sind, die ich weggelassen habe. Und auch ganz viele Dinge, die ich aus Fachliteratur gezogen habe, aus Filmen oder Gesprächen mit Betroffenen. Ich habe mir die Dinge dann auch zurechtgelegt – weil ich das nicht eins zu eins wiedergeben wollte. Das ist etwas, womit ich mich bei diesem Theatertext sehr oft auseinandergesetzt habe: die schmale Grenze zwischen privat und persönlich. Das habe ich als Autorin während meines Studienverlaufs gelernt, dass ich am Anfang ganz fest vom Privaten ausgegangen bin. Man hat oft so ein Bedürfnis über sich und seine Geschichte zu schreiben – und irgendwann wechselt es dann nach aussen. Das ist etwas, was sehr viele Autor*innen kennen.

Die spannendsten Arbeiten sind für mich immer Arbeiten, die aus einer persönlichen Motivation heraus entstehen. Wieso sollte man diese Grenze wahren? Genau deswegen mache ich auch so gerne Stückentwicklungen.

NG: Ein Riesenthema, du hast es auch schon angesprochen, ist das Schweigen über die Geschichte, über die familiäre Geschichte. Die Tochter im Stück etwa weiss nicht einmal von der ärmlichen Herkunft der Familie. Dass der Grossvater sehr arm aufgewachsen ist und als Verdingkind gearbeitet hat. Dass das Schweigen so weit reicht in dieser Familie, über den Vater zum Grossvater...

AC: Ich glaube auch, dass dieses Schweigen etwas ist, was unglaublich viele Menschen kennen. Davon sind sehr viele Familien betroffen. Ich würde aber sagen, das Schweigen auf institutioneller Ebene oder auch das Schweigen der Schweiz als Staat nochmal eine ganz andere Nummer ist. Es gibt so viele Dinge, wo die Schweizer Regierung für mich persönlich gravierende Entscheidungen getroffen hat und wir nicht darüber gesprochen haben. Ich habe selbst in der Schule diese Begriffe Verdingung oder Fremdunterbringung nicht kennengelernt. Das ist ungefähr 20 Jahre her. Vor hundert Jahren standen wir auch noch auf den Feldern und haben „rum- gebauert“ und jetzt tun wir alle so, als wäre das nie dagewesen. Das finde ich so wahnsinnig. Das stört mich.

NG: Ich glaube, dass man das so lange auch politisch ignoriert hat und nicht hat anschauen wollen, weil die Schweiz in dieser Zeit an ihrem eigenen Image als Erfolgsmodell festhalten wollte. Der Ausbau des Wohlfahrtsstaates, der zunehmende Wohlstand ab den 60er Jahren... da passte «das andere» nicht dazu. Man wollte es weghaben, sauber, schön. Obwohl es zeitgleich noch weiterlief.
Auch gab es wahnsinnig lange (und immer noch) eine Stigmatisierung der Betroffenen. Man kommt sowieso schon aus einer armen Familie, die nicht dem Bild entspricht, wie es sein sollte. Und dann bist Du auch noch ein Heim- oder Verdingkind. Das ist wie ein doppelter Stempel, den man da erhält.

AC: Ich glaube, dass diese Stigmatisierung deswegen auch so gross geworden ist – oder auch immer noch so gross sein kann – weil es gar keinen Platz dafür gibt.

NG: Im Stück herrscht zwischen den drei Protagonist*innen, auch als Vertreter*innen ihrer Generationen, eine grosse Unmöglichkeit, miteinander zu kommunizieren, sich zu verstehen. Es scheinen wie Wände zwischen ihnen zu sein, verschiedene Prägungen, in welchen diese Figuren leben.
Der Grossvater, der in seine Traubenwelt flüchtet, um zu vergessen. Der Vater, dessen Motto das Funktionieren ist und der für die Tochter emotional nicht erreichbar ist. Und gleichzeitig leidet er extrem unter der Distanz, die die Tochter zu ihm einnimmt. Das fand ich sehr berührend, wie das herausgearbeitet ist.

AC: Das ist etwas, was ich sehr symptomatisch finde für diese Generation. Eigentlich wäre ganz viel Emotionalität da, aber man hat kaum gelernt, darüber zu reden. Oder man kennt es einfach nicht. Gerade in der Schweiz. Ich habe ganz am Anfang der Arbeit am Stück über die verschiedenen Kapitale von Pierre Bourdieu gelesen. Und er unterscheidet zwischen einem sozialen, einem kulturellen, einem ökonomischen und einem symbolischen Kapital – und dann hat irgendwann Eva Illouz noch das erotische Kapital dazu gebracht, als neuen Faktor. Es gibt gewisse Welten, wo man einfach kaum anpassungs- oder überlebensfähig ist, weil man nicht alle Arten von Kapital hat. Und ich glaube, das war auch ein ganz wichtiger Aspekt, den ich mit dem Text zum Ausdruck bringen wollte. So ging es mir zum Beispiel mit der Figur vom Grossvater: Er hat zwar vielleicht irgendwie dieses ökonomische Kapital, aber er sitzt immer noch plump am Tisch (ahmt einen groben Bauern am Tisch nach).

Oder er hat immer noch nicht die Wörter dafür. Und dasselbe bei der Kleinsten. Sie ist dann zwar in dieser Struktur und in dieser Schule oder diesem Theaterbetrieb, aber sie weiss, dass sie anders riecht.

NG: In deinem Stück heisst es: «Aber Männer in dieser Familie reden nicht, denn wenn Männer in dieser Familie reden, dann müssen sie weinen. Und es gibt keine weinenden Männer in dieser Familie.» Die Frauen würden vielleicht eher reden, aber im Stück kommen sie, mit Ausnahme der Tochter, nicht vor. Was hat dich dazu veranlasst, diese Frauen, die da eigentlich auch noch wären, nicht zu zeigen?

AC: Die Frauen waren am Anfang noch ganz stark drin. Und dann habe ich gemerkt, es macht nochmal ein komplett anderes Fass auf. Wenn Frauen in dieser Familie mühsam geworden sind, dann hat man sich ihrer entledigt, ich kann es nicht anders sagen. Und meiner konnte sich leider keiner entledigen, weil ich die einzige Tochter bin. Ich muss sagen, es war auch eine politische Motivation: als ich angefangen habe dieses Stück zu schreiben habe ich gemerkt, dass ich gerade auch aus der Theaterszene heraus von Männern kritisiert worden bin. Und ich werde ganz oft daraufangesprochen, dass brennendes haus mein Männerhass-Stück sei. Das finde ich überhaupt nicht. Mein Vater liebt es! (...) Ich habe bei diesem Text gemerkt, dass die Arbeit daran für meine persönlichen Beziehungen alles verändert hat. Gleichzeitig hat mich das auch vor Fragen gestellt. Ich frage mich immer, wenn ich brennendes haus sehe, ob das nicht einfach ein mega egoistischer Abend ist? Wir hatten auch beim Dramenprozessor einen Moment, wo ich gesagt habe, dass ich nicht weiss, ob ich weiter an dem Text arbeiten möchte, weil ich das Gefühl hatte, es geht so ganz fest um mich.
Und dann hat mir aber eine andere Teilnehmerin gesagt: «Schau mal, ich kann dir auf den ersten Blick fünf Dinge sagen, wo es nicht um dich geht, sondern wirklich um Generationen.» Zum Beispiel solche Aussagen wie «ein Hobby als Beruf» (Anmerkung der Redaktion: das Zitat bezieht sich auf eine Passage im Theatertext, in dem der Vater den Berufswunsch der Tochter belacht, so wie bereits der Grossvater den Berufswunsch des Vaters belacht hatte). Ich meine, wer in unserer Generation kennt das nicht von seinen Eltern?

NG: Das Essen ist auch ein Thema im Stück. Oder der Umgang mit Essen. Der Grossvater hat immer Hunger. Für den Vater ist es einfach «Essen, Essen, Essen, Fleisch, Fleisch, Fleisch». Und die Tochter entwickelt eine Essstörung.

AC: Das ist auch irgendwie eine Generationenfrage für mich.

NG: Ich finde es auch eine Form der intergenerationalen Weitergabe. Der Umgang mit dem Essen ist schwierig. Man hat keinen entspannten Zugang zum Essen. Beim Grossvater war es wegen der Armut. Beim Vater ging es vor allem darum viel zu essen. Essen damit du gross und stark wirst. Und bei der Tochter kommt es dann als Essstörung an.

AC: Mir war beim Thema Essstörung auch dieser Querverweis zum Theater sehr wichtig. Es gibt einfach immer noch unheimlich viel Bodyshaming in diesem Bereich. Sehr oft, wenn Schauspieler beleibter sind, ist es so ein Darstellen: hier ist unsere beleibte Person! Wenn ich mir die Schauspieljahrgänge angucke, dann ist es ganz oft eine Person, bei der ich das Gefühl habe, die wird jetzt für diese Rolle gebraucht. Und sonst sehe ich einfach sehr, sehr viele normschöne Menschen. Oder, whatever schön means. Zwar ist es viel besser geworden in den letzten Jahren, es ist viel passiert und es geht in eine gute Richtung. Ich glaube, man muss aber gerade jetzt gucken, dass es nicht wieder zurückgeht.

Und auf der anderen Seite beschäftigt mich der Fleischkonsum. Nicht, weil ich finde, es ist einfach per se schlecht, Fleisch zu essen oder weil ich das verurteile. Sondern weil ich das zum Beispiel auch so beeindruckend finde, wenn jemand sagt: «ich esse nur das Fleisch, das ich selber grossziehe und selber verwerte.» Ich finde das noch mal etwas ganz anderes. Alles in dieser Fleischbearbeitung - also Schlachten, Selchen, dieses Hautabziehen und so – ich finde das hat so eine ganz komische Sinnlichkeit.

NG: Wie von Dir vorhin schon kurz erwähnt: das ganze Stück ist ja auch eine Reflexion auf Theater.

AC: Und was Theater ist und was das bedeutet. Es gab da auch Punkte, wo ich mich gefragt habe: tue ich dem Betrieb damit ein Gefallen? Und ich finde, den allergrößten Irrtum, den wir machen können, ist – nur weil wir in einem System drin sind und weil wir dieses System mögen – es nicht kritisieren zu dürfen. Ich kann etwas lieben und es trotzdem verändern wollen.

Ich habe mit diesem Text angefangen, als ich noch fest in der Unistruktur der UDK (Universität der Künste Berlin) war. Und ich habe gemerkt, ich kann ihn da nicht weiterbearbeiten. Es hat nicht funktioniert. Auch, weil es wirklich ein Schweizer Thema ist. Das interessiert in Berlin nicht. Ich habe dann drei Monate überhaupt nichts mit dem Text gemacht und dann die Ausschreibung vom Dramenprozessor gesehen. Dann habe ich ihn wieder nach vorne genommen, weil ich gedacht habe: vielleicht hat er jetzt einfach in diesem Kontext nicht gepasst.

Ich finde es so schön, dass der Text jetzt hier gelandet ist: genau in so einer Bühne, in so einem Raum, sehe ich ihn! Nicht vor 500 Leuten, das kommt da nicht durch, das klingt da nicht so. Dafür ist er nicht gemacht. Er hat eine viel zu grosse Intimität.



Stück