Anna Bertram: Anaïs, du erzählst und beschreibst in «brennendes haus» eine ländliche Schweiz. Was ist das für eine Welt?
Anaïs Clerc: Es ist eine Welt, die es so heute nicht mehr gibt. Die Schweiz vergisst immer wieder, dass hier vor hundert Jahren noch alle herumgebauert haben. Es ist eine raue, eine handwerkliche und eine urchige Welt. Sie ist voller Ochsenkarren, Kühe und Sautröge. Es ist eine Welt, in der Berner Sennenhunde nach ihrem Tod gegessen werden und Kinder auf dem Feld und im Stall arbeiten. Es ist die ländliche Schweiz, wie sie vor achtzig, vor hundert Jahren noch ganz normal und alltäglich war.
Und darin begegnen wir einer Familie. Es gibt die kleinste, den mittleren und den grössten. Wer sind diese Figuren?
Es sind eine Tochter, ein Vater und ein Grossvater, der gerade gestorben ist. Sie sind keine einsamen Figuren, aber doch allein. Und nähern sich vorsichtig, durch den Dialog, immer mehr aneinander an. So lange, bis sie Gemeinsamkeiten gefunden haben, die sie trotz Scham und Wut miteinander verbinden. Ja: Die Figuren verbindet eindeutig mehr, als sie denken. Mehr, als sie sich selbst eingestehen können. Und als sie aufhören, ihre Gemeinsamkeiten zu verstecken, da beginnt ein Zusammenwachsen.
Was brennt in dieser Familie?
Es brennt eine grosse Scham aufgrund eines fehlenden kulturellen und sozialen Kapitals. Der Grossvater ist in Armut aufgewachsen und hat sich aus seinem Milieu herausgearbeitet. Auch wenn er und sein Sohn es zu einem gewissen Reichtum geschafft haben, kennen sie weder Umgangsformen, noch Sprachen oder den Habitus der oberen Gesellschaftsschichten. Die junge Tochter bekommt das zu spüren, als sie sich der Welt des Theaters annähert. Egal, was sie macht; immer bleibt dieses Gefühl, dass sie nicht dazugehören kann und dass sie es nicht verdient. Das Trauma von «nicht zugehörig sein», «nicht dazugehören dürfen» wurde weitergegeben von Generation zu Generation. Oft unbewusst. Nach dem Tod des Grossvaters widmet sich die Figur der Tochter gemeinsam mit ihrem Vater den transgenerationalen Traumata.
– und immer wieder taucht im Stück die Kirche auf. Ist Religion heute überhaupt noch eine wichtige Kategorie?
Auf jeden Fall. Ich beziehe mich jetzt mal auf die Religion, mit der sich «brennendes haus» auseinandersetzt: auf die christliche. Kirchen sind riesige Institutionen, die mir persönlich relativ wenig geben und zugleich im Weg gestanden sind mit ihren veralteten Wertvorstellungen. Sie vertreten Ansichten, die tief in uns verwurzelt sind – auch wenn wir uns dessen nicht bewusst sind. Man stelle sich nur vor, Adam hätte den Apfel ganz alleine gegessen! Letzten Sommer habe ich an einer Demonstration einen Pfarrer kennengelernt, der ein Transparent dabei hatte. Auf dem stand «Mein Gott liebt alle Menschen». Da habe ich mir gedacht: Stabiler Typ! Das erwarte ich eigentlich von allen, die sich christlich nennen. Wo ist sie denn, die Nächstenliebe? Und genau deswegen traue ich der Institution nicht. Dafür hat sie mir zu oft keine Nächstenliebe gezeigt.
Bis in die 1980er Jahre wurden in der Schweiz Kinder fremduntergebracht und arbeiteten unter Zwang, meist in der Landwirtschaft. Psychischer und körperlicher Missbrauch fand dort statt. Wo wird über diesen Teil der Geschichte heute gesprochen und wo nicht?
In der Schule – in meiner jedenfalls – nicht. Ich bin der Thematik erst begegnet, als ich mich gezielt damit auseinandergesetzt habe. Ich glaube, wenn es den Spielfilm «Der Verdingbub» von Markus Imboden nicht gegeben hätte, wäre das Thema nie so breit an die Öffentlichkeit gekommen und es hätte auch keine Wiedergutmachungsinitiative stattgefunden. Die Summen, die ausbezahlt worden sind, fand ich zum Teil lächerlich und Fremdscham erregend. Ich weiss auch nicht, warum die Schweizer Regierung, Pro Juventute, kirchliche Institutionen und viele andere so lange gebraucht haben, das Thema auch nur im Ansatz aufzuarbeiten. Das ist doch bedenklich! Ich glaube aber, die Schweizer*innen tragen viel Schweigen und Ungesagtes in sich. Das ist einfach mein ganz persönliches Empfinden. Während des Zweiten Weltkriegs hat sich der Schweizer Bundesrat für einen Stempel in den Pässen von Jüdischen Menschen ausgesprochen und damit unzählige Menschen in den sicheren Tod geschickt. Und zwar, indem man sie einfach an der Grenze zurückgewiesen hat. Darüber habe ich auch nie etwas gelernt in der Schule. Und jetzt, achtzig Jahre später, schauen alle nach Deutschland bezüglich Rechtsruck und kaum jemand blickt in die Schweiz. Dabei ist die SVP für die AfD eine Vorzeigepartei.
Was denkst du, gibt es Wege, nicht nur eine jüngere Generation zu heilen, sondern auch diejenigen aus der Vergangenheit?
Ich persönlich habe aufgehört, Aktionen und Reaktionen von Menschen zu erwarten, die ausserhalb ihrer Möglichkeiten liegen. Das ist manchmal nicht einmal Bösartigkeit oder Ignoranz. Es gibt Menschen, die etwas, was anderen leicht erscheint, einfach nicht können. Punkt. Und ich glaube an Verzeihen und trotzdem an Weitergehen. Ich sehe es als zwischenmenschliche Aufgabe, Hintergründe herauszufinden. Warum benimmt sich eine Person so, wie sie sich benimmt? Es ist einfach zu sagen, eine Person sei böse, gemein oder arrogant. Schwieriger ist es, herauszufinden, warum Menschen sich benehmen, wie sie es tun; und letztlich daraus eine Konsequenz zu ziehen.
Müssen wir reden, um ein Schweigen zu brechen – oder reicht es, hinzuhören?
Vielleicht beides zur richtigen Zeit und beides so, wie es uns individuell möglich ist? Reden muss auch gelernt sein. Und dafür brauchen wir Zeit, Geduld und Verständnis.