Es ist ja so: Diese True-Crime-Podcasts, die ganzen Krimis, all diese blutrünstigen Geschichten haben uns total verdorben. Alle wissen nur noch, wer wo wann gestorben ist, wo aber die betreffende Person geboren wurde, das hat niemand auf dem Schirm. Deshalb denken selbstverständlich alle bei Heinrich von Kleist an diese helle Rasenfläche vor dem Wannsee, auf der er sich am 21. November 1881 erschossen hat, aber niemand an Frankfurt an der Oder, seine Geburtsstadt am östlichsten Rand Brandenburgs. 90 Kilometer nach Berlin und ein paar Meter bis nach Polen. Umso schöner also, diese allzu oft vergessene, ostdeutsche Perle einen Tag vor Kleists 247. Geburtstag zu besuchen. Wird doch ihm zu Ehren dort, und bereits, als Podcastserien noch längst nicht erfunden waren, einer der wichtigsten Preise für neue Dramatik verliehen: Seit 1996 lobt die Dramaturgische Gesellschaft gemeinsam mit der Stadt Frankfurt (Oder) und dem Kleist Forum eine Förderung für junge Dramatiker*innen aus: den Kleist-Förderpreis für neue Dramatik. Zu den bisherigen Gewinner*innen zählen mittlerweile etablierte wie Sasha Marianna Salzmann, Wolfram Lotz und Thomas Köck. Und letzterer hatte in diesem Jahr die Ehre, die 1992 in Graubünden geborene Sarah Calörtscher mit einer performativ beeindruckenden Laudatio zu beloben – doch dazu später.
Der Anlass der Reise also: In der Provinz wird neue Dramatik bejubelt, das passiert natürlich erstens: zurecht und ist zweitens: bemerkenswert. Ist doch gerade der Brandenburger Osten nach der vergangenen Wahl nicht für seine Progressivität bekannt, wünschen sich dort schliesslich über ein Drittel der Landtagswähler*innen faschistische und reaktionäre Politik. Folgerichtig vielleicht, gerade dort einen Text auszuzeichnen, der sich mit nichts weniger als dem Fortkommen der Menschheit beschäftigt, wenn es auf dem Heimatplaneten arg zugeht, genaugenommen, wenn es sich dort ausgelebt hat. In Sarah Calörtschers Gewinnertext „Herz aus Polyester“ haben es drei Erdlinge mit einem Algorithmus zu tun, der ihre Übersiedlungswürdigkeit auf den Mars überprüfen soll, denn dort spielt sich mittlerweile das noch verbliebene Leben ab. Allerdings nur für jene Auserwählten, die die algorithmische Überprüfung überstanden haben, der Rest vegetiert auf einer mittlerweile nicht nur durch erschöpfte Ressourcen, sondern auch durch die Gefahr einer lebensgefährlichen Plastifizierung des Körpers wenig attraktiven Erde.
Die Themen Marskolonisierung, Planetenkollaps und gewissermassen auch
Wurmloch haben eine seltsame Bodenhaftung in Frankfurt (Oder). Das
spürt schon, wer mit dem Zug anreist und sich genauer mit den
Mitreisenden beschäftigt, die grösstenteils bei einem weltweit bekannten
Milliardär angestellt zu sein scheinen, der nicht nur für seine
Elektrofahrzeuge, sondern auch die Proklamation einer Zukunft im All
bekannt ist. Wenige Regionalbahnstationen vor dem Ort der
Kleistförderpreisvergabe hat Tesla seine europäische Gigafactory in den
sandigen Brandenburger Boden gerammt. So eingestimmt, verlässt man dann
in der Kleiststadt den Zug mit den von der Schicht vermürbten, die sich
hier vom Lackieren, Schweissen, Verkabeln und Löten erholen wollen. Und
steht nach wenigen Gehminuten vor dem Kleist-Museum, das noch ganz und
gar besandsackt ist, das kleist‘sche Konterfei blickt von einem Plakat
etwas missmutig auf die Oder, deren Wasser vor zwei Wochen noch
Rekord-Pegelstände zu verzeichnen hatte. Und deren Ufer von einem
meterhohen Metallzaun umgeben ist, Spuren einer zumindest dort
verhinderten Überflutung. Der Kollaps also noch abgewendet, aufbäumen
tut sich der Planet jedoch bereits auch sichtlich hier, weshalb zur
Ausflucht (und weil bis zum Festakt noch Zeit bleibt) die Oderbrücke
nach Polen wie gerufen kommt.
Einer der Vorteile der Stadt: Man kann sie
schnell wieder verlassen. Oder besser: Ihre Anbindung ins jenseits der
Oder liegende Słubice in Polen. Wäre Frankfurt an der Oder ein Film,
dann hätte er sicher das Prädikat „wertvoll“, das in Deutschland
Filmproduktionen mit höchsten pädagogischen Ansprüchen erhalten, die
aber trotzdem niemand kennt. Im hiesigen Fall wäre es die nimmermüde
Betonung des europäischen Zusammenhalts und der Völkerverständigung,
neben den gut beleuchteten Kleistspuren weist jedes Schild nach Europa,
dessen Grenzenlosigkeit es hier beidseitig der Oder (noch) zu bestaunen
gilt. Kaum auf der anderen Seite angekommen, scheint es, als wäre die
Brücke ein Wurmloch in eine andere Welt. In der es nach Kohle riecht, wo
eine Sprache mit zärtlich weichen Konsonanten gesprochen wird und die
einstmals leuchtenden Buchstaben eines längst geschlossenen Kinos so
abmontiert wurden, dass den bretterverschlagenen Eingang die Letter „NO
PAST“ überschreiben. Die heilende Erfahrung, wie schnell alles anders
sein könnte, muss natürlich kulinarisch belohnt werden und das fällt
nicht schwer, diesseits der Oder. Bei Pirogi mit Pilzen und Kraut bleibt
dann also noch etwas Zeit, um schon vor dem Festakt zu beschliessen,
dass zeitgenössische Theatertexte auch in der Provinz gut aufgehoben und
erstaunlich anknüpfungsfähig sind.
Später dann, im verglasten Foyer des Kleistforums ist dies auch eindeutig die Mehrheitsmeinung. Es gilt hier einen Text zu ehren, im dem nicht nur spielfreudig eine womöglich nahende Zukunft verhandelt wird, sondern, der nichts weniger als eine Pionierarbeit ist: Betont doch Thomas Köck in seiner vor allem körperlich weit ausholenden Laudatio, dass das interessierte Publikum es hier mit einer Genre-Premiere zu tun hat: Dem erstmaligen Auftauchen von Code im Drama, einer ähnlich massgeblichen Neuerung wie die Konfrontation des Individuums mit dem Chor in der Antike: Die in „Herz aus Polyester“ eingeführte Auseinandersetzung zwischen Körper und Code. Ein Novum an der Oder. Wo auch sonst?
Auf dem Rückweg geht es wieder vorbei an den fensterlosen Tesla-Silos, quadratische Mahnungen an die gewalttätige Durchsetzung einer noch verhinderbaren Zukunft, sie leuchten im Wald. Einige müssen zur Nachtschicht. Sie begrüssen sich wissend, sie wünschen mir noch eine gute Fahrt.