25.10.2023

Selma Kay Matter, Philine Erni

Dramatik lesen: «Grelle Tage»
Matter grelle tage

Als 10. Buch der Reihe «Suhrkamp Theater» erschien im September «Grelle Tage» von Selma Kay Matter aus Zürich. Matter reflektiert darin die komplexen Zusammenhänge der Klimakrise und überlagert dafür Raum und Zeit: «Die Bühne ist alle Orte und vor allem ist die Bühne der Boden, der warm wird und weich wird und nachgibt und aufbricht und wankt. Keine*r hat einen festen Stand», so die Bühnenanweisung.

Selma matter
© Billie Söntgen

Das Stück beginnt, als die erste Hirnzelle eines zerfledderten Hundes auftaut. Dann die nächste und so weiter. Bald trennt sich der Theatertext in drei Spalten: Während der Hund erste Gedanken formuliert, versinkt in Sibirien langsam ein Haus im tauenden Permafrost-Boden und auch in Brandenburg kann die 13jährige, nonbinäre Figur Jo die Klimakatastrophe nicht mehr ignorieren: «Eine Sekunde hab ich nicht hingesehen und der See hat beschlossen zu gehen.» Aus dem Muschelfeld, welches vom See übriggeblieben ist, entsteigt ebendieser 13 000 Jahre alte Hund, der gleichzeitig auch in Jakutsk in Sibirien gefunden wird, wo Archäologen und Mammutdealer den tauenden, schlammigen Boden nach Kadavern absuchen. «Im Laufe des Stücks taut der ZERFLEDDERTE HUND immer weiter auf, bis er auseinanderfällt», so die Regieanweisung. Und während in Sibirien das Eis schmilzt und neben dem Wolfshund auch Mammuts auftauen, bricht in der Schweiz dem Matterhorn ein Felsbrocken ab.

Jo und der Wolfshund werden im Laufe des Stücks unter anderem zum Baumarkt fahren, wo sie tonnenweise Kies kaufen, um das Matterhorn zu kitten. Das alles, während der gleiche Hund im Naturhistorischen Museum in Sibirien präpariert wird. Weitere fröhlich-biodiverse Figuren sind ausserdem ein Mammut, Wandermuscheln, Schwalben, ein Wolfsrudel, Rettungshunde und Fische.

Philine Erni: 2022 ausgezeichnet mit dem Hans-Gratzer-Preis wurde das Stück im Januar 2023 am Schauspielhaus Wien uraufgeführt und erschien im September in der Reihe Suhrkamp Theater. Letzteres ist aussergewöhnlich: Wie ist es zu dieser Publikation gekommen?

MATTER: Der Suhrkamp Verlag publiziert in der Buchreihe Suhrkamp Theater seit 2021 jedes Jahr zwei bis vier ausgewählte Stücke, um sie einem Lesepublikum zugänglich zu machen. Heutzutage ist das ja gar nicht mehr so üblich, dass Nicht-Theaterschaffende direkten Zugang zu den geschriebenen Stücken erhalten; Theaterschaffende können sich Stücke auf Theatertexte.de bzw. bei den Verlagen als PDFs bestellen, während alle anderen zeitgenössische Stücke fast ausschliesslich als Inszenierungen sehen können. Der Suhrkamp Theaterverlag hat mir vorgeschlagen, «Grelle Tage» als Buch rauszubringen, weil es inhaltlich gut passt: Ich habe bereits in den frühen Textfassungen bzw. im Schreibprozess viel mit eigenem und fremdem Bildmaterial gearbeitet – in den Suhrkamp Theater Büchern gibt es immer einen Bildteil – und der Text arbeitet grafisch stark mit der Seite im PDF bzw. Buch, weil ich versucht habe, eine literarische und grafische Form zu finden für die Gleichzeitigkeit und das Nebeneinander unterschiedlicher Ereignisse an verschiedenen Orten auf der Welt.

Der Text auf Papier ist durchgehend grafisch gestaltet. In den verschiedenen Spalten passieren so unterschiedliche Dinge gleichzeitig. Inwiefern gibt das Layout (oder die Gewohnheit) eine Leserichtung vor? Beziehungsweise was gewinnt die gedruckte Fassung gegenüber einer Inszenierung?

MATTER: Die Gleichzeitigkeit kann auf dem Papier viel konsequenter stattfinden. In der Inszenierung muss immer eine Entscheidung getroffen werden: Setze ich die Szene in der rechten Spalte vor die auf der linken? Oder umgekehrt? Oder lasse ich alle durcheinandersprechen? In der gedruckten Version werden die Lesenden einbezogen in die Gestaltung der Landschaft des Stückes: Sie können sich entscheiden, wie sie die Seite lesen, in welcher Reihenfolge, das Nebeneinander wird grafisch sichtbar, springt von Anfang an ins Auge. Ausserdem haben die Lesenden direkten Zugang zu den Bildern und den QR-Codes, die zu Videos, Sounds usw. führen, die für mich Teil der Materialmappe sind.

Waren diese Bilder und Videos Inspirationsmomente, oder wann kamen die zum Text dazu?

MATTER: Ich behaupte immer, ich kann mir keine Geschichten ausdenken. Das ist natürlich Quatsch, aber es ist wirklich so, dass ich erst schreiben kann, wenn das Material dermassen in mich übergegangen ist, dass ich zu 100% daran glaube und das Gefühl habe, ich würde nur die Wirklichkeit dokumentieren. Dementsprechend habe ich mir unendlich viele Youtube-Dokus angeschaut, Bilder von aufgetauten Kadavern im Permafrost, Bilder von Kratern, Bilder von zusammengestürzten Häusern in Jakutsk, einen Artikel über den Golfplatz neben dem Seddiner See... Erst dann konnte ich den Text schreiben. Recherche und Schreiben gehen bei mir ineinander über. Dieses Feld an Material kann ich kaum vom Text trennen und als Inspiration und Denkraum gehört es für mich dazu; alle, die potenziell mit dem Text arbeiten, sollen ebenfalls Zugang dazu erhalten.

Das Geschäft mit Mammut-Elfenbein war mir beispielsweise gänzlich unbekannt. Wenn man da anfängt zu googlen, geht schnell eine recht abgründige Welt auf – auch dass das quasi als «Fairtrade-Elfenbein» verkauft wird. («Das heisst so, weil kein Elefant dafür sterben muss», heisst es im Stück.) Was war dein absurdester Erkenntnismoment?

MATTER: Naja, ja, also, es gibt viele solcher Dinge, die zu abgefahren sind, um wahr zu sein: Zum Beispiel, dass Superreiche wie Paris Hilton in das Klonen von Mammuts investieren. Das kommt so im Stück so nicht vor, weil es stranger ist, als jede Fiktion…

Dein Theatertext erzählt verschiedene Stränge parallel. Schreibst Du in dieser Parallelität oder entwickelst Du die einzelnen Stränge und verwebst sie anschliessend?

MATTER: Ich habe erst versucht, ein herkömmlicher strukturiertes Stück zu schreiben, aber das ist dem Stoff überhaupt nicht gerechtgeworden. Als die disparate Form dann da war, habe ich mit einem Gefühl für den Rhythmus vieles parallel geschrieben.

Dabei stellst Du globale und private Krisen nebeneinander (z.B. Paardynamik im Baumarkt neben der Ausgrabungsstätte in Sibirien)? Wie entscheidest Du, was parallel erzählt wird?

MATTER: Es geht dabei nicht immer um Kausalität. Oft war es eine Intuition, dass Dinge etwas miteinander zu tun haben, und sei es, weil sie sich so stark kontrastieren, dass sie die antgegengesetzten Enden von etwas darstellen. Das hat mich ja genau interessiert: Was hat das um die Kiesfarbe in der Auffahrt streitende Paar mit dem Matterhorn zu tun?

Und wie entscheidest Du, welche Momente ins Stück kommen? Gerade wenn sie die Handlung nicht direkt vorantreiben?

MATTER: Ich würde sagen, das Stück hat verschiedene Dramaturgien. Eine davon ist eine Dramaturgie der Entropie. Darunter verstehe ich zum Einen eine Eskalation – immer mehr geht kaputt, der Hund zerfällt, eine Verfolgungsjagd beginnt – zum anderen aber auch das Ausbreiten der Landschaft, das immer schnellere Ineinanderfallen von Mikro-Ereignissen, die Art und Weise, wie das immer komplexer werdende Bild gezeichnet wird.

Was interessiert Dich an der Gleichzeitigkeit/Überlagerung von Raum und Zeit?

MATTER: Alles. Es wird ja oft gesagt, globale Themen, die beispielsweise mit kolonialen Kontinuitäten, der kapitalistischen Weltwirtschaft oder der Klimakatastrophe (alles sehr miteinander verbandelt) zu tun haben, seien zu abstrakt, um sie in einer dramatischen Form darzustellen. Ich habe in "Grelle Tage" versucht, komplexe Zusammenhänge konkret greifbar zu machen; was hat der austrocknende See in Brandenburg mit auftauenden Mammutkadavern im sibirischen Permafrost zu tun? Wo sind Parallelen, wo gibt es kausale Verkettungen? Wie können verschiedene Betroffene ein und desselben Prozesses, die an unterschiedlichen Orten auf unterschiedliche Weise damit in Berührung sind, miteinander in eine Resonanz treten?

Hast Du Antworten gefunden?

MATTER: Ich habe zumindest (künstlerische) Vorschläge gemacht.

Was im Gegensatz zur Bühne in der gedruckten Version «fehlt» sind die Spieler*innen. Inwiefern spielt diese «Körperlichkeit» beim Schreiben für Dich eine Rolle?

MATTER: Bei mir spielt der Sound des Textes immer schon im Schreiben eine grosse Rolle. Bei «Grelle Tage» waren die Körper der Spieler*innen bzw. der Figuren noch mal speziell wichtig: Der 13‘000 Jahre alte zerfledderte Hund schmilzt und zerfällt ja im Laufe des Stücks, das heisst, auch seine Sprache muss nach und nach zerfallen...

Theatertexte werden selten gedruckt und sind deshalb theoretisch ständig wandelbar. Wie fühlt es sich an, nun eine «definitive Version» zu haben?

MATTER: Oh, es ist toll! Gerade, weil ich einen grossen Teil des Materials, das mich im Schreibprozess begleitet hat und das ich mit dem Stoff assoziiere, bereits dem Stück beigefügt habe. So suggeriert der Text auch gar keine Fertigkeit: Es ist eher so, als könnte ich ausnahmsweise ganz direkt mit dem Publikum kommunizieren und einen Einblick in mein Schreiben und Denken geben. Der Text ist in einer noch nicht durch eine Inszenierung vor-interpretierten Version zugänglich. Das ist schön.

Stück