Philine Erni: 2022 ausgezeichnet mit dem Hans-Gratzer-Preis
wurde das Stück im Januar 2023 am Schauspielhaus Wien uraufgeführt und
erschien im September in der Reihe Suhrkamp Theater. Letzteres ist
aussergewöhnlich: Wie ist es zu dieser Publikation gekommen?
MATTER:
Der Suhrkamp Verlag publiziert in der Buchreihe Suhrkamp Theater seit
2021 jedes Jahr zwei bis vier ausgewählte Stücke, um sie einem
Lesepublikum zugänglich zu machen. Heutzutage ist das ja gar nicht mehr
so üblich, dass Nicht-Theaterschaffende direkten Zugang zu den
geschriebenen Stücken erhalten; Theaterschaffende können sich Stücke auf
Theatertexte.de bzw. bei den
Verlagen als PDFs bestellen, während alle anderen zeitgenössische Stücke
fast ausschliesslich als Inszenierungen sehen können. Der Suhrkamp
Theaterverlag hat mir vorgeschlagen, «Grelle Tage» als Buch
rauszubringen, weil es inhaltlich gut passt: Ich habe bereits in den
frühen Textfassungen bzw. im Schreibprozess viel mit eigenem und fremdem
Bildmaterial gearbeitet – in den Suhrkamp Theater Büchern gibt es immer
einen Bildteil – und der Text arbeitet grafisch stark mit der Seite im
PDF bzw. Buch, weil ich versucht habe, eine literarische und grafische
Form zu finden für die Gleichzeitigkeit und das Nebeneinander
unterschiedlicher Ereignisse an verschiedenen Orten auf der Welt.
Der Text auf Papier ist durchgehend grafisch gestaltet. In
den verschiedenen Spalten passieren so unterschiedliche Dinge
gleichzeitig. Inwiefern gibt das Layout (oder die Gewohnheit) eine
Leserichtung vor? Beziehungsweise was gewinnt die gedruckte Fassung
gegenüber einer Inszenierung?
MATTER:
Die Gleichzeitigkeit kann auf dem Papier viel konsequenter stattfinden.
In der Inszenierung muss immer eine Entscheidung getroffen werden:
Setze ich die Szene in der rechten Spalte vor die auf der linken? Oder
umgekehrt? Oder lasse ich alle durcheinandersprechen? In der gedruckten
Version werden die Lesenden einbezogen in die Gestaltung der Landschaft
des Stückes: Sie können sich entscheiden, wie sie die Seite lesen, in
welcher Reihenfolge, das Nebeneinander wird grafisch sichtbar, springt
von Anfang an ins Auge. Ausserdem haben die Lesenden direkten Zugang zu
den Bildern und den QR-Codes, die zu Videos, Sounds usw. führen, die für
mich Teil der Materialmappe sind.
Waren diese Bilder und Videos Inspirationsmomente, oder wann kamen die zum Text dazu?
MATTER:
Ich behaupte immer, ich kann mir keine Geschichten ausdenken. Das ist
natürlich Quatsch, aber es ist wirklich so, dass ich erst schreiben
kann, wenn das Material dermassen in mich übergegangen ist, dass ich zu
100% daran glaube und das Gefühl habe, ich würde nur die Wirklichkeit
dokumentieren. Dementsprechend habe ich mir unendlich viele
Youtube-Dokus angeschaut, Bilder von aufgetauten Kadavern im Permafrost,
Bilder von Kratern, Bilder von zusammengestürzten Häusern in Jakutsk,
einen Artikel über den Golfplatz neben dem Seddiner See... Erst dann
konnte ich den Text schreiben. Recherche und Schreiben gehen bei mir
ineinander über. Dieses Feld an Material kann ich kaum vom Text trennen
und als Inspiration und Denkraum gehört es für mich dazu; alle, die
potenziell mit dem Text arbeiten, sollen ebenfalls Zugang dazu erhalten.
Das Geschäft mit Mammut-Elfenbein war mir beispielsweise
gänzlich unbekannt. Wenn man da anfängt zu googlen, geht schnell eine
recht abgründige Welt auf – auch dass das quasi als «Fairtrade-Elfenbein»
verkauft wird. («Das heisst so, weil kein Elefant dafür sterben muss»,
heisst es im Stück.) Was war dein absurdester Erkenntnismoment?
MATTER:
Naja, ja, also, es gibt viele solcher Dinge, die zu abgefahren sind, um
wahr zu sein: Zum Beispiel, dass Superreiche wie Paris Hilton in das
Klonen von Mammuts investieren. Das kommt so im Stück so nicht vor, weil
es stranger ist, als jede Fiktion…
Dein Theatertext erzählt verschiedene Stränge parallel.
Schreibst Du in dieser Parallelität oder entwickelst Du die einzelnen
Stränge und verwebst sie anschliessend?
MATTER:
Ich habe erst versucht, ein herkömmlicher strukturiertes Stück zu
schreiben, aber das ist dem Stoff überhaupt nicht gerechtgeworden. Als
die disparate Form dann da war, habe ich mit einem Gefühl für den
Rhythmus vieles parallel geschrieben.
Dabei stellst Du globale und private Krisen nebeneinander (z.B. Paardynamik im Baumarkt neben der Ausgrabungsstätte in Sibirien)? Wie entscheidest Du, was parallel erzählt wird?
MATTER:
Es geht dabei nicht immer um Kausalität. Oft war es eine Intuition,
dass Dinge etwas miteinander zu tun haben, und sei es, weil sie sich so
stark kontrastieren, dass sie die entgegengesetzten Enden von etwas
darstellen. Das hat mich ja genau interessiert: Was hat das um die
Kiesfarbe in der Auffahrt streitende Paar mit dem Matterhorn zu tun?
Und wie entscheidest Du, welche Momente ins Stück kommen? Gerade wenn sie die Handlung nicht direkt vorantreiben?
MATTER:
Ich würde sagen, das Stück hat verschiedene Dramaturgien. Eine davon
ist eine Dramaturgie der Entropie. Darunter verstehe ich zum Einen eine
Eskalation – immer mehr geht kaputt, der Hund zerfällt, eine
Verfolgungsjagd beginnt – zum anderen aber auch das Ausbreiten der
Landschaft, das immer schnellere Ineinanderfallen von Mikro-Ereignissen,
die Art und Weise, wie das immer komplexer werdende Bild gezeichnet
wird.
Was interessiert Dich an der Gleichzeitigkeit/Überlagerung von Raum und Zeit?
MATTER:
Alles. Es wird ja oft gesagt, globale Themen, die beispielsweise mit
kolonialen Kontinuitäten, der kapitalistischen Weltwirtschaft oder der
Klimakatastrophe (alles sehr miteinander verbandelt) zu tun haben, seien
zu abstrakt, um sie in einer dramatischen Form darzustellen. Ich habe
in "Grelle Tage" versucht, komplexe Zusammenhänge konkret greifbar zu
machen; was hat der austrocknende See in Brandenburg mit auftauenden
Mammutkadavern im sibirischen Permafrost zu tun? Wo sind Parallelen, wo
gibt es kausale Verkettungen? Wie können verschiedene Betroffene ein und
desselben Prozesses, die an unterschiedlichen Orten auf
unterschiedliche Weise damit in Berührung sind, miteinander in eine
Resonanz treten?
Hast Du Antworten gefunden?
MATTER: Ich habe zumindest (künstlerische) Vorschläge gemacht.
Was im Gegensatz zur Bühne in der gedruckten Version «fehlt»
sind die Spieler*innen. Inwiefern spielt diese «Körperlichkeit» beim
Schreiben für Dich eine Rolle?
MATTER:
Bei mir spielt der Sound des Textes immer schon im Schreiben eine
grosse Rolle. Bei «Grelle Tage» waren die Körper der Spieler*innen bzw.
der Figuren noch mal speziell wichtig: Der 13‘000 Jahre alte
zerfledderte Hund schmilzt und zerfällt ja im Laufe des Stücks, das
heisst, auch seine Sprache muss nach und nach zerfallen...
Theatertexte werden selten gedruckt und sind deshalb
theoretisch ständig wandelbar. Wie fühlt es sich an, nun eine
«definitive Version» zu haben?
MATTER:
Oh, es ist toll! Gerade, weil ich einen grossen Teil des Materials, das
mich im Schreibprozess begleitet hat und das ich mit dem Stoff
assoziiere, bereits dem Stück beigefügt habe. So suggeriert der Text
auch gar keine Fertigkeit: Es ist eher so, als könnte ich ausnahmsweise
ganz direkt mit dem Publikum kommunizieren und einen Einblick in mein
Schreiben und Denken geben. Der Text ist in einer noch nicht durch eine
Inszenierung vor-interpretierten Version zugänglich. Das ist schön.