18.12.2025

Anna Bertram

Campobello ist kein Hashtag
Zwei Personen auf einem Feld mit trockenem Gras und Land

Der Kapitalismus hat in seiner Logik etwas genial Paradoxes etabliert: die Aneignung von Widerstand – und damit die Sinnentleerung eben dieses Widerstands. Heute ist alles politisch. Theater, Kunst, Beziehungen, Essen, Kleidung. Der Übergang zu Greenwashing, Pinkwashing, Diversity Washing ist weich und gemütlich. Auf diese Weise kann man sich im alltäglichen Konsum die Positivity selbstzufrieden überstülpen. Und auch das Theater hat gelernt, sich progressiv zu inszenieren: ein Hashtag «political», effiziente Kommunikation und Zielgruppenmarketing – schon ist die Relevanzfrage geklärt. Danach Apéro mit ein paar Taralli und Nocellara-Oliven, in Zürich gefallen auch Austern und Prosecco auf dem Premierentisch. Es ist eben wichtig, sich in diesen belastenden Zeiten etwas Gutes zu tun.

Doch wenn alles politisch ist, ist auch nichts mehr politisch. Künstlerische Handlungen, die sich als dringlich verstehen, bleiben damit manchmal – fast aus Versehen – ohne strukturelle Konsequenzen. Und das nicht einmal aus bösem Willen. Sondern weil Aufmerksamkeit mit Veränderung verwechselt wird oder weil moralische Positionierung plötzlich Handeln ersetzt. Genau hier, mitten im Wunsch nach Dringlichkeit und seiner gleichzeitigen Vermarktung, liegt ein feiner Riss: zwischen der paradoxen Verwertungskonsequenz und der Bruchstelle des Politischen. Denn hier wird sogar unser inneres Begehren nach Gerechtigkeit vermarktbar – und der Kulturbetrieb ist davon nicht ausgeschlossen.

Die Frage für das Theater lautet also: Was bedeutet der Begriff «politisch» für die Bühne abseits seiner Vermarktung? Was ist ein Text und was sind Körper, die sich nicht in Diskurs und Affirmation verlieren, sondern eine tatsächliche Sprengkraft in sich tragen?

Eva-Maria Bertschys Theater findet in Campobello eine Sprache und eine Handlung poetischer und zugleich deutlicher Schlagkraft. Und das in einer Zeit, in der Prekarität dorthin verlagert ist, wo sich das bürgerliche Theater kaum hinbewegt. Bertschy und ihr Team kennen das Feld, über das sie sprechen. Sie haben dort gelebt, dokumentiert, recherchiert: über das Dorf Campobello im Südwesten Siziliens, wo auf den Olivenhainen Arbeiter*innen unter ausbeuterischen Bedingungen eingesetzt werden und Politik wie Wirtschaft sie gezielt in abhängige und gefährliche Arbeitsverhältnisse bringen. Über Solidarität und Liebe, die es ebenso gibt – und die stark und widerständig sind. Über Geschichten, die sich artikulieren, weil sie es müssen. Der Abend verdichtet eine materielle Wirklichkeit von Gewalt und Rassismus. Und doch ist es ein Abend, der in seiner Konsequenz von Verbundenheit und Zusammenhalt erzählt. Campobello zeigt und rekonstruiert nicht nur Zusammenhänge zwischen Europa und dem Norden Afrikas, sondern auch zwischen «du» und «ich». Und erzählt zuletzt auch die Verbindung zwischen der Schweizer bella vita – wer liebt Italo-Pop nicht – und dem Preis, der dafür sehr real gezahlt wird.

Dabei ist das gesellschaftliche Problem hinter dem westlichen Wohlstand ist ein grösseres, als blosse Ignoranz. Es fehlt an den relevanten Orten an Wissen über globale Ausbeutung. Viel eher ist es das Gegenteil: Man weiss es eigentlich zu gut, dass dort, wo Europa gerne Sommerurlaub macht, die Arbeitsverhältnisse in der Landwirtschaft unmittelbar mit unserem Konsum und wirtschaftlich gewollter Ausbeutung zu tun haben. Man weiss zu gut, dass sich dort die Geschichte der Migration zwischen Europa und seinen Kolonien in Afrika als gnadenlose Wirklichkeit fortschreibt. In roher Gewalt und Unterdrückung. Das alles ist aber schwer auszuhalten, unangenehm – tut weh und überfordert. In all den Informationen über eigene Verstrickungen, in denen man sich kaum noch orientieren kann, schaut man lieber weg. Und da sind dann Pop-Diskurstheater weniger nervig, als der Zeigefinger; in der Freizeit muss doch nicht auch noch die Auseinandersetzung mit globalen Zusammenhängen stattfinden.

Die politische Mobilisierungskraft von Betroffenheit ist erschöpft und funktioniert nicht mehr. Erfolgreiche Verdrängung dagegen schon. Und durch die staatlich-institutionelle Verschiebungen an die Aussengrenzen Europas verschwinden die globalen Konflikte zunehmend auch von den Bildschirmen der Einzelnen – folglich verlassen sie auch die Kulturbetriebe. Campobello widersteht also genau dem: Im Schleudergang der neoliberalen und inhaltsleeren Waschmaschine zu zergehen. Der Abend holt diejenige Realität in das Theater, die wir hier nicht mehr sehen. Statt bloss mit Fakten und Dokumenten rekonstruiert Campobello Politik mit einer Sanftheit auf der Bühne. Mit Körpern, Stimmen, mit Zeit und Raum.

Campobello ist neben all seiner Schlagkraft vor allem auch ein Trost. Wenn globale Zusammenhänge so komplex und unübersichtlich sind, dass wir längst wissen, Profiteur*innen moderner Sklaverei zu sein – dieses Wissen zugleich aber ausblenden – scheint dieser Abend in seiner klaren Haltung letztlich entlastend. Er bringt eine weiche Struktur in die Überforderung. Der Abend ist auch tröstlich, weil er Biografien und Zusammenhänge erzählt, die an den meisten Stellen unsichtbar bleiben. Politisches Theater tut nicht nur weh oder provoziert, Campobello ist nicht nur Anklage. Sondern auch das, was Theater am Besten kann: Gemeinschaft, Zugewandtheit und Sinnlichkeit. Dass die grünen Oliven auf dem Apéro gut schmecken, das muss ausgehalten werden.