Kassandra

von Jean-Pierre Vuilleumier

«Kassandra, Seherin, Prophetin des Untergangs

Kassandra: Tochter des Priamos von Troia und der Hekabe. Sie erhält die Sehergabe vom Gott Apollon, der sie liebt, dessen Liebe sie jedoch nicht erwidert, so straft sie der Gott, indem er sie zwar die Wahrheit voraussagen, aber ihre Prophezeiungen nirgends Glauben finden lässt.

Vergebens warnt Kassandra die Troianer vor dem hölzernen Pferd, umsonst prophezeit sie den Untergang der Stadt. Während der Plünderung und der Teilung der Beute in Troia gerät sie als Sklavin in die Hände Agamemnons, der sie nach Griechenland mitnimmt. In Mykenai fällt sie zusammen mit Agamemnon dem Mordanschlaf des Aigisthos und Klytaimnestra zum Opfer. 

Christa Wolf lässt Kassandra kurz vor ihrem Tod, ihren eigenen Untergang sehend, vor dem Löwentor in Mykenai sprechen: Über den Untergang der Stadt, über ihre nicht gehörten Prophezeiungen, über sich selbst als Frau, über ihre Ängste, ihre Wut und auch ihr Scheitern.

Christa Wolf hat die Figur Kassandra mit ihrer unmissverständlich klaren Sprache in einen Bereich einer ewigen Gültigkeit gesetzt, dem man beinahe die Bezeichnung klassisch geben kann: Die ewig gültige, jedoch von der Literatur so selten behandelte Geschichte der Frau, die eine lebbare, gültige Alternative zum Wahn und der Gewalt des Krieges sucht.

‹Inwieweit gibt es wirklich ‹weibliches› Schreiben? Insoweit Frauen aus historischen und biologischen Gründen eine andere Wirklichkeit erleben als Männer […] Insoweit sie aufhören sich an dem Versuch abzuarbeiten, sich in die herrschenden Wahnsysteme zu integrieren, insoweit sie, schreibend und lebend auf Autonomie aus sind." Diese Sätze bilden den Schluss der Poetik-Vorlesung Christa Wolfs in Frankfurt.

Kassandra wird ihr zum Modell, die ursprüngliche als Lehrstück gedachte Erzählung wird immer mehr zur Schlüsselerzählung, die, von der gegenwärtigen Bedrohung ausgehend, auf den Zusammenhang von Krieg und Vatergesellschaft weist, wie die Notwendigkeit einer neuen ‹weiblichen Sicht›. »

Kassandra 1

Historie des Stücks

  • Theater Winkelwiese Schweizerische Erstaufführung mit Barbara-Magdalena Ahren 1986