19.5.2023

Sarah Calörtscher

Was uns hier vereint, ist die unbändige Zuneigung zu Texten und zu denen, die Texte produzieren
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Im Gemurmel der Anwesenden und über das Herumrücken der Stühle hinweg, verschafft sich Ulrich Khuon Gehör, begrüsst und definiert in einem Nebensatz, für welche Art von Texten wir alle hier sind, nämlich theaterabendauslösende Texte, und es wird darin sichtbar, in was für einem Verhältnis die schreibende Person zum Theaterhaus steht.

Die Anwesenden im Haus stellen sich vor – wer seid ihr, was macht ihr, und wie geht's?

Anwesend: das DRAMA FORUM Graz, der Dramenprozessor Zürich, der Heidelberger Stückemarkt, der Studiengang Szenisches Schreiben an der UdK Berlin, der Kleist-Förderpreis Frankfurt, die Mülheimer Theatertage, die Dramaturgische Gesellschaft, der Verband der Theaterautor:innen.

«Meinst du, es gibt Merch-Taschen?»

Bernd Isele stellt uns das Programm des Nachmittags vor. Die Drama-Tische, zu denen man dank eines ausgeklügelten Farbsystems (es kann geschummelt werden) gelangen kann, werden jeweils von unterschiedlichen Institutionen betreut. (Einer der Tische steht in der Love Lounge, ehemals Bohnensaal genannt, die aber immer noch mehr nach Bohnensaal aussieht als nach Love Lounge.) An den Tischen wird ein gemeinsames Vokabular für zeitgenössische Dramatik gesucht. Oder infrage gestellt, oder gefunden, oder verunmöglicht.

Eine Wörterliste mit Vokabular, das im Laufe des Nachmittags wie Glassteine am Kronleuchter im Raum hängen geblieben ist:

- Unterstützung
- zusammenarbeiten
- Kooperation
- vernetzen
- Partnerschaften
- Förderprogramm
- Zusammenarbeit
- Netzwerk
- Treffen
- fördern
- Werkstatt
- Begegnung
- Kommunikation
- Begegnungsformat
- Nachhaltigkeit
- Beziehung
- Kontakt
- Bandenbildung
- kollektiv
- Vertrauen
- Vielfalt
- Nachwuchs

es netzwerklet also ächli.

Die anwesenden Institutionen scheinen sich einig darin zu sein, sich vernetzen zu wollen, oder eherangesichts der aktuellen Herausforderungen im Theaterbetrieb zu müssen. Erinnerungen an die Pandemie schwappen immer wieder über unsere trockenen Füsse. Da ist auch noch mehr: die schwindende Nachfrage nach dem Nachspielen von uraufgeführten Stücken / die Tatsache, dass viele Stücke im Auftrag eines Hauses entstehen oder durch dessen Anbindung an eine Regieperson / das Ringen um Sichtbarkeit / für die Schublade Geschriebenes / und ein anderes Vokabular: Wettbewerb, Preis, Besten-Auswahl, Jury, Marktwert, Konkurrenz, präsentieren.

Und dann plötzlich, sticht als Forderung durch die leergebliebenen Post-It-Zettel und Packpapierrollen: die Nachspiel-Allianz.

Eine vielversprechende Koalition aus Verlag – Festival – Autor:in – Dramaturgie entwickelt an einem der Drama-Tische die Idee, dass sich Häuser dazu verpflichten könnten, eine Mindestanzahl an Nachspielen aufzuführen. Verschleiss-Prophylaxe.

Als Nachwuchs-Autorin beschäftigt mich das Nachwachsen in diesen ganzen Geflechten.

Was wächst wo, wie wächst wer, wer wächst wie, und warum wächst überhaupt?

Was sind das für Häuser, in die nachgewachsen werden soll?

Am Abend der Parcours Heim-Suchungen im Deutschen Theater, mit sechs ausgewählten Texten von Anaïs Clerc, Özlem Özgul Dündar, Amir Gudarzi, Paula Kläy, Elisabeth Pape und Marcus Peter Tesch.

Wir sind im Inneren des Hauses unterwegs. Werden durchgelotst – auch hier ist wieder ein ausgeklügeltes Farbsystem am Start. Durch die Innereien des Hauses. Von Raum zu Raum. Von Text zu Text.

Verbindendes Element zwischen den Stücken: Das Zuhause. Die Heimat. Die Herkunft. Die Familie. Das, woraus mensch gekommen ist. Das, was abgestreift werden will. Das, wovon weggegangen wird. Das, was nicht ähnlich sein soll. Das, was Erwartungen stellt, die nicht erfüllt werden wollen, weil es da noch anderes gibt, und weil es längst eigene Erwartungen gibt. Da ist die Rede von Vätern, vom Grössten und vom Mittleren und der Kleinsten, von Müttern und von Kindern, von Häusern, von Familien.

(«Wenn die Füsse vorher – und die Füsse vorher – und die Füsse vorher…» so in Brennendes Haus von Anaïs Clerc aus dem Dramenprozessor 22.23 zu lesen.)

Ich denke nochmals über das Nachwachsen nach. Übers Zuwachsen. Wegwachsen. Durchwachsen. Bewachsen. Überwachsen. Was ist das für ein Haus, in das dieser Nachwuchs hineinwächst – oder aus dem er hinauswachsen will? Wie sieht das Haus aus, welches die Neue Dramatik beherbergt? Theaterabendauslösende Texte brauchen textzuspielmachende Räume, oder?

Wir hausen weiter durch den Parcours. Von Text zu Text verändern sich die Räume und verändern die Texte das Haus, und vielleicht, wächst der Nachwuchs eben nicht nur nach: In den Texten der Nachwuchs-Autor:innen, schimmert das Verlangen durch, zu überwachsen. Abzustreifen. Neu zu werden. Oder zumindest dahin zu laufen, wo die Füsse vorher... Und vielleicht ist ein Text guter Dünger für ein Haus, um neue Räume zu schaffen und an ehemals nackten, weissen Wänden verborgene Türen zu entdecken. Und vielleicht ist es auch eher ein durchwachsen durch die Wände hindurch, das wir brauchen, ein sich über die Häuser spannendes Netz, mit lauter loser Enden, an die angeknüpft werden kann.

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