14.4.2023

Julia Skof, Darja Stocker

«Was muss geschehen, damit jemand bereit ist, sich von seinen Privilegien zu lösen?»

Was bedeutet für Autor*innen Gegenwart? Wie kann die heutige Welt beschrieben oder kommentiert werden? Welche Themen und Stoffe drängen sich auf und lassen sich zudem auf einer Bühne verhandeln? - Fragen, die sich das Theater Winkelwiese als Zentrum für zeitgenössische Dramatik fortan stellen wird und gemeinsam mit Schreibenden und dem Publikum in der Diskussionsreihe ZEITGENOSS:INNEN debattieren möchte.

Die Autorin Darja Stocker und die Regisseurin Julia Skof diskutierten in der dritten Veranstaltung dieser Reihe über Antigone, den Arabischen Frühling und die zunehmende Komplexität der Gegenwart - und was das fürs Theater schreiben/inszenieren heissen könnte. Moderiert hat Hannah Steffen.
(Das Gespräch fand im Anschluss an die Vorstellung am 31.3.2023 statt und wurde in Ausschnitten transkribiert.)

Was hat euch am Antigone-Stoff so fasziniert, dass ihr ihm eure Aufmerksamkeit geschenkt habt? Und Julia, warum hast du die Bearbeitung von Darja Stocker gewählt und nicht den antiken Stoff?

Skof: Darja hat den Stoff im Jetzt (damals 2016) angesiedelt beziehungsweise vor dem Hintergrund des Arabischen Frühlings ab etwa 2011, in den damaligen Umbrüchen. Wir haben während des Studiums viele Versionen gelesen und die Version von Darja hat am meisten mit mir gemacht. Vielleicht auch weil ich mich seit meinem Soziologiestudium viel mit Migration und sozialer Ungleichheit beschäftigt und auch über acht Jahre für die Schweizerische Flüchtlingshilfe gearbeitet habe. In dem Stück waren viele Fragen drin, die damit zu tun hatten: Um wen trauern wir eigentlich als Gesellschaft? Wer hat das Recht auf Anteilnahme? Wer bekommt Sichtbarkeit? Deshalb war für mich klar, dass ich mich für diesen Stoff entschieden habe.

Darja, warum hast du diese Folie gewählt für deine Antigone?

Stocker: Ich war damals mit Pro Helvetia in Ägypten. Damals im Nachgang der Revolte waren täglich Demonstrationen auf der Strasse: Da habe ich miterlebt, wie Leute, die im Theater tätig waren und ihre Stücke gemacht haben – Leute, wie wir alle – auf die Strasse gingen und sich im Grunde einem Protest von viel ärmeren Leuten angeschlossen haben. Die Theaterleute, mit denen ich zusammenarbeiten sollte, meinten: Wenn du mit uns arbeiten möchtest, kommst du einfach mit. Ich empfand es als Privileg, dort dabei sein zu dürfen und zu sehen, wie so ein realer Protest stattfindet, wo es wirklich um jeden Meter geht. Das hat mich sehr bewegt.

Und auch ich habe, wie Julia, für eine Geflüchteten-Organisation gearbeitet: In Palermo und an den Grenzen vom Mittelmeer hatte ich eine Zeit lang übersetzt für eine Organisation, dem heutigen Alarm Phone. Die überwachen das Mittelmeer und machen öffentlich, wo welche Boote in Seenot sind. Das soll Druck ausüben, die Boote zu retten: Wenn es öffentlich ist, kann man nicht sagen, dieses Boot hat nie existiert.

Als ich danach zurück kam in die Schweiz, erhielt ich einen Stückauftrag von Andreas Beck und dem Theater Basel.

Was sich durch diese Thematiken durchgezogen hatte, war ein ganz starkes Nach-Vorne-Rücken der Menschen, die gestorben waren. An der Mittelmeergrenze gibt es beispielsweise diese Mütter mit den Bildern der Kinder, die ertrunken waren. In der Revolte, in Ägypten, waren es riesige Bilder der Märtyrer, der Demonstrant*innen, die im Protest umgekommen waren. Die wurden die ganze Zeit gezeigt. Die sollten eine Veränderung hervorbringen – um nicht umsonst gestorben zu sein. Das hatte mich sehr bewegt. Die Trauermärsche wurden zu Demonstrationen. Es ging nicht nur darum, um die Gestorbenen zu trauern, sondern darum, zu protestieren und etwas zu fordern. Genau darum gehts bei Antigone, wenn sie sagt: Mein Akt ist ein Akt des Protestes. Ich beerdige diesen Bruder nicht nur, weil ich ihn so mochte, sondern es ist ein Aufruf an die Menschlichkeit. Aber auch an die Gerechtigkeit, weil eigentlich war er dran mit Regieren. Das ist auch eine Systemfrage. Klar, das findet in einem Königshaus statt, aber es ist auch eine Frage danach, wer wie viel bekommt, wer wie viel Recht auf was hat. Und dann wusste ich: Okay, es ist Antigone.

Skof: Und wie verlief der Tranfer dieser Erlebnisse zu einem Stück?

Stocker: Ich habe als Erstes entschieden, dass es drei Antigones sind, so dass man verschiedene Stimmen hat, verschiedene Ausschnitte. Es sollte nicht nur um meine Erfahrung gehen, sondern darum, dass viele tausende Menschen Erfahrungen machen – und diese Sachen aus unterschiedlichen Perspektiven sehen, die ich auch gesehen hatte. Ich bin in Ägypten oder am Mittelmeer, aber neben mir steht jemand, der*die hat eine andere Biografie und schaut ganz anders darauf. Deswegen wollte ich das multiplizieren. Wir sind heute nicht nur eine Antigone, wir sind ganz viele. Es gibt ganz viele Menschen, die für etwas Ähnliches kämpfen. Es ist ja beispielsweise kein Zufall, dass du etwas Ähnliches gearbeitet hast wie ich, Julia, und hier im Publikum sind bestimmt auch ganz viele, die in der Richtung tätig sind. Wir sind heute einfach viel vernetzter und können die ganze Zeit sehen, was woanders passiert.

Dieses Aufteilen war die erste Entscheidung. Ich habe im Grunde das Original genommen und angefangen, die Struktur zu verändern. Und dann habe ich die Geschichte hinterfragt: Stimmt es wirklich, dass Polyneikes der Feind ist? Dies ist eine klare Feindeserzählung von Kreon.

(...)

Ausserdem gibt es noch Haimon, den Gatten von Antigone, der im Schloss geblieben ist. Und ihre Schwester Ismene, die auch ein bisschen skeptisch ist, schon im Original. Das sind die Leute, die interessiert, was passiert; aber die machen nicht den Schritt und gehen dahin und gucken selbst. Aus welchen Gründen auch immer. Ich verurteile das nicht, aber da gibt es natürlich einen Graben. Und ich glaube, das ist sehr stark sichtbar in deiner Inszenierung oder in deinem Zugriff.

Skof: Im Stück kommt vor, dass Antigone zurückkommt, nachdem sie rausgegangen ist, und ihre Schwester erkennt sie nicht mehr. Und sagt: Was ist mit dir geschehen? Du bist ganz anders. Sie hat sich da von ihrer Familie, von ihrer Herkunft, vielleicht von ihrer sozialen Rolle auf eine Weise entfernt und hinterfragt eigentlich das ganze Königshaus. Und das war genau die Frage, die im Zentrum stand, als dieses Konzept entstanden ist: Was muss geschehen, damit jemand bereit ist, für eine höhere Sache zu kämpfen und sich vielleicht auch von seinen Privilegien zu lösen?

(…)

Stocker: In Europa protestieren wir eher symbolisch, während in Ägypten damals Menschen mit dem Körper kämpften. Also ganz konkret: gegen diesen einen Panzer. Für mich war dann die Frage: Was heisst das für die Demokratien hier, die sich Demokratien nennen? Mit welchem Recht? Wenn Leute an der Grenze abgewiesen werden oder ein Leben weniger wert ist als ein anderes? Was heisst das für hier? Welchen Anspruch haben wir an das Wort «Demokratie»? Dabei geht es ganz schnell um «universelle Menschenrechte».

Skof: Und welche Verantwortung haben wir dadurch, dass wir gerade eben nicht mit dem nackten Leben kämpfen müssen, sondern diese Kämpfe auch auf eine (mediale) Weise mittragen können? Für mich hat das unglaublich viele Konsequenzen, wenn man sich das so überlegt, aus dieser Position heraus, in der wir hier stecken. Wen denken wir alles mit? Oder wen denken wir zu unserer Demokratie? Wer hat Mitspracherecht? Im Zusammenhang mit der Ukraine haben wir eine immense Ungleichbehandlung von verschiedenen Geflüchteten aus verschiedenen Kriegsgebieten erlebt, einfach weil das weisse Menschen waren. Die hatten plötzlich viel mehr Rechte, viel mehr Freiheiten, obwohl sie eigentlich Ähnliches erlebt hatten. Da find ich schon, dass ziviler Ungehorsam ein wichtiger Punkt ist.

Darja, hast du relativ früh gemerkt, dass du eine Notwendigkeit verspürst, dahinzugehen, wo diese Widerstandsbewegungen stattfinden – oder war das eher Zufall, dass du dort gelandet bist?

Stocker: Nein, das war eher Zufall. Wenn ich nicht eh dort gewesen wäre, wäre ich nicht ins Flugzeug gestiegen und dahingeflogen, so weit wäre ich nicht gegangen. Ich war dahin eingeladen mit Nachtblind. Ich glaube, ich hätte mich sonst nicht getraut.

Aber ich habe da natürlich Leute getroffen, Kriegsjournalist*innen, die genau das gemacht haben. Die haben mich sehr, sehr beeindruckt und  kommen auch vor im Text. Sie müssen da sein und alles dokumentieren. Das ist ihre Rolle. Das war ihr Verständnis davon, was sie als privilegierte Leute zu tun haben. Das muss man nicht verallgemeinern, das war einfach eine Variante. Und das ist dann auch eine Antigone von den Dreien. 

Es gibt ausserdem die Königstochter, aber auch die Sozialarbeiterin, die eben doch Sorge hat, wie sie ihre nächste Miete zusammenkriegt. Es geht nicht um eine Trennung in Privilegierte, die helfen, und Marginalisierte, denen geholfen wird. Es geht um Überschneidungen und darum Handlungsmacht zu haben, aktiv zu sein, vielleicht in einem kleinen Rahmen etwas auszurichten, aber diese Handlungsmacht auch wieder zu verlieren. Anderswo weiterzumachen. Und um Solidarität. Um die Frage, wie Solidarität über diese Unterschiede hinweg funktioniert.

Ich habe darin auch dich erkannt, Julia, obwohl sich dein Arbeiten nicht um den ganzen Mittelmeerbogen spannt. Du versuchst eher uns von hier raus, wie du sagst, aus unseren singulären Positionen wieder in Verbindung zu bringen. Darin sehe ich auch die drei Antigones, dass man sagt: Wir haben unterschiedliche Perspektiven, aber wir sind verknüpft in dem, was unsere Kämpfe sind und unsere Widersprüche, so dass wir uns ähneln, obwohl wir komplett isoliert voneinander sind. Dass du das versuchst, in Verbindung zu bringen, war das eine Sache, in der du dich wiedererkannt hast und weswegen du das Stück an dich genommen hast? Oder: Wie würdest du die Unterschiedlichkeiten beschreiben in eurem Arbeiten?

Skof: Auf jeden Fall das, was du gerade genannt hast: Wie wir uns eigentlich aus unseren singulären Positionen oder unserer Innenperspektive auf die Welt verbinden oder solidarisieren können. Oder ganz grundsätzlich: Wie man überhaupt Gesellschaft macht. Wie wir über Dinge sprechen. Wie wir Entscheidungen treffen. Wo sich das Innen mit dem Aussen trifft. Wie etwas gebildet wird, was eine Gemeinschaft konstituieren soll oder für Mehrere gelten. Für wen das dann gilt. Und wer da mitbestimmt hat. Das sind Fragen, die mich extrem umtreiben. Auch unsichtbare und sichtbare Widerstände von Menschen, die wirklich am Rande der Gesellschaft leben, zum Beispiel in der Schweiz: Leute, die Nothilfe beziehen. Das aus einer Position heraus zu beschreiben, die mit Handlungsmacht verbunden ist, also aus ihrer Position heraus, so dass die Menschen nicht in eine passive Rolle gedrängt werden. Und das, glaube ich, ist dir in deinem Stück gelungen, Darja. Die sind ja auch an verschiedenen Rändern unterwegs. Ich glaube, es gibt da so eine Randlogik oder Grenzlogik, darin sind wir uns ähnlich. Das sind die Linien, die mich schon immer, ja, eigentlich in fast allen Arbeiten interessieren.

(...)

Stocker: Was einerseits Hoffnung macht oder was Solidarisierung ermöglicht, ist die Mediatisierung. Die Tatsache, dass fast jede*r ein Handy hat und filmen kann, so dass die Opfer oder die Leute, die eingeknastet werden, nicht anonym bleiben. 2011 hat das angefangen, die Revolten im arabischen Raum waren extrem mediatisiert, aber seitdem hat sich das nochmal weiterentwickelt. Und trotzdem ist man ohnmächtig. Denn trotz Mediatisierung haben die, die das Gewaltmonopol haben, die Überhand. Foucault hat noch gesagt, wir haben Machtverhältnisse, die versteckt sind. Ich glaube, wir haben ganz offensichtliche Machtverhältnisse und die ganze Welt schaut zu und trotzdem passiert es. Und trotzdem wird eine feministische Bewegung im Iran niedergeschlagen – wir wissen es alle, ich muss es gar nicht nochmal wiederholen, was da passiert.

Ich glaube, was ich ihnen schulde, ist, dass ich hoffen muss. Dass ich mich solidarisiere. Dass ich, wenn ich kann, etwas multipliziere. Und dass ich hoffe, dass sie es trotzdem schaffen. Und natürlich wäre meine Aufgabe dann auch, hier Druck zu machen, dass die Regierungen hier sich darum kümmern. Da ist schon noch Luft nach oben, dass die Leute, die hier in Europa sind, sich stärker fokussieren, ausrichten, organisieren. Und gleichzeitig kommt da immer mehr: das Klima, aktuelle Krisen… Eigentlich ist es ganz interessant. Julia hat Ausschnitte aus dem Stück genommen und gesagt: Die bewegen mich und die thematisiere ich. Vielleicht ist das eine der Möglichkeiten, damit umzugehen: Zu sagen, ich nehme mir diese Ausschnitte, nur einen Konflikt im Grunde, in dem aber ganz viele Konflikte aufgehen, und das mache ich in einem Abend. Vielleicht ist es das dann. Und der Rest muss diskutiert werden.

Stück