Marie Duchêne: Du hast Deutsche Philologie und Neuere
deutsche Literatur studiert. Wie bist du zum Schreiben fürs Theater
gekommen?
Caren Jess: Das ist immer so eine Frage, auf die es eine unendlich
lange Antwort gibt. Ich habe schon als Jugendliche gern Theater geschaut
und ich hatte ganz konservativ-provinziell ein Abo fürs
Schleswig-Holsteinische Landestheater. Nachdem ich dann in Hamburg und
München mal ein grösseres Stadttheater besucht hatte, war mein Herz
vollends entflammt. Ich habe zu der Zeit schon geschrieben, aber mehr so
lyrische Sachen. Ernsthaft in den Theaterbetrieb eingemischt habe ich
mich erst in den späten 2010er-Jahren. Ich habe mir sehr lange gar nicht
zugetraut Autorin zu sein, auch da spielt mein provinzieller
Hintergrund eine Rolle.
In deinem Stück Das Stillleben betrachtet eine
Geisteswissenschaftlerin ein Stillleben – auf dem sich ausnahmsweise
auch ein Mensch befindet, Frank. Er ist ebenso regungslos wie das
biedere Interieur um ihn herum und zieht sich lieber ins Private zurück,
als rauszugehen. Gab es einen Schlüsselmoment, in dem du gemerkt hast:
Der Biedermeier ist nicht unbedingt Geschichte?
Ich würde verschiedene Sachen dazu erzählen wollen: Einmal war der
Biedermeier die erste Epoche in meinem Studium, die mich richtig
begeistert hat, obwohl ich lange Zeit gedacht hatte, das sei die
langweiligste Strömung, über die man sich unterhalten kann. Aber
letztlich fand ich genau das spannend. Wie kommt es eigentlich, dass
sich so eine politikverdrossene Geisteshaltung entwickelt, die das
Private, das Beschauliche wählt, während sich um die Menschen herum die
Welt neu ordnet? Wenn man diesen State-of-mind als Schutzmechanismus
betrachtet, ist er natürlich durchaus nachvollziehbar. Ich habe das
Stück als Auftragsarbeit für das Widerstandsfestival in Heidelberg
geschrieben und hatte zunächst etwas ganz anderes im Kopf, aber
irgendwie hat es mich gereizt, mich mit dem Biedermeier nochmal
dramatisch zu beschäftigen. Mit Corona hat dieser apolitische Rückzug ja
auch so eine Art Revival erfahren.
Franks Gelähmtheit kann man als Realitätsflucht bezeichnen; auch die Hauptfigur in deinem Stück Die Katze Eleonore wird von einer Sehnsucht nach Eskapismus angetrieben. Was fasziniert dich an diesem Motiv?
Freut mich, dass du das fragst. Auch wenn Die Katze Eleonore und Das Stillleben inhaltlich
und stilistisch völlig unterschiedlich sind, findet sich darin ein
gemeinsames Thema: Rückzug und Überdruss gegenüber der Gesellschaft. Ich
kann dir aber nicht wirklich sagen, was mich daran fasziniert. Ich bin
sehr interessiert an gesellschaftlichen Wandelprozessen und an
politischer Mitgestaltung und mir fällt zusehends auf, dass die
gegenwärtigen Ereignisse eine Sehnsucht danach provozieren, dass alles
für einen kurzen Moment einfach in Ordnung ist; dass es keinen
Klimawandel gibt, da nicht schon wieder ein Krieg ausbricht. All diese
Katastrophen haben etwas so Vereinnahmendes, dem man nicht entrinnen
kann. So hat dieses Sehnsuchtsmoment gute Chancen zu gedeihen – auch
wenn die Sehnsucht unerfüllbar scheint. So wie die
Geisteswissenschaftlerin am Ende ein Sofa sein will. Frank lebt im
Interieur seiner Privilegien, sie beneidet ihn, aber reibt sich
gleichzeitig total daran.
Kennst du diese Ambivalenz von dir selbst?
Ich muss gestehen, dass ich sehr sensibel bin. Alles, was passiert,
nehme ich mit nach Hause, was für den Beruf der Autorin ganz gut ist,
aber für mich als Privatperson super anstrengend. Ich zähle mich auf
jeden Fall zu denjenigen, die solche Inseln brauchen, auf die sie sich
zurückziehen können. Für mich kann das z.B. sein, im Urlaub komplett
offline zu gehen. Das ist aber nur temporär.
Was machst du dagegen, es dir dann im Urlaubsmodus nicht bequem zu machen? Schreiben?
Ja, so widersprüchlich es klingen mag: Die Beschäftigung damit ist
das beste Gegenmittel. Sich mit Menschen auszutauschen, die ähnliche
Gefühle von Überforderung kennen, ist total heilsam. Damit beseitigt man
natürlich noch keine Katastrophen, trotzdem ist Umgang für mich die
beste Form der Bewältigung.
Das Stillleben hat 8 Kapitel mit Überschrift, viele
Fussnoten, ein Quellenverzeichnis am Schluss: Wenn man das Stück nur
flüchtig betrachtet, könnte man denken, man hätte eine wissenschaftliche
Arbeit vor sich. Wieso hast du dich für diese Form entschieden?
Dahinter liegt keine starke Intention, ich fand die Idee witzig, eine
wissenschaftliche Arbeit zu schreiben, sie aber zu dramatisieren. Quasi
einen Wunsch zu realisieren, den ich im Studium hatte, während ich mich
über Regularien für Hausarbeiten ärgerte. Ich konnte endlich dem
Bedürfnis nachgehen, auch mal in einer Fussnote emotional zu werden.
In Das Stillleben gibt es viele solcher Fussnoten,
mit denen du den gesprochenen Text ergänzt, kommentierst, oder auch
einfach in knapp 500 Wörtern erklärst, weshalb Adalbert Stifters
Erzählung Der Nachsommer zum Gähnen langweilig ist. Welche Funktion haben diese Fussnoten für dich?
Für mich sind sie eine Art Dialog, quasi das Alter-Ego der
Geisteswissenschaftlerin. Es sind ihre inneren Stimmen, die alles
Mögliche wissen, und es sich nicht verklemmen können, die Dinge zu
kommentieren oder ins Lächerliche zu ziehen. Ich habe schon bei der
ersten Fussnote gemerkt: Das wird mir Spass machen.
Franks Regungslosigkeit macht die Geisteswissenschaftlerin
stellenweise sehr wütend, was sie in Schimpfwörtern zum Ausdruck bringt.
Auch das ist ein Stilmittel, das in deinen Stücken immer wieder
auftaucht. Worin liegt für dich die Kraft der sogenannten vulgären
Sprache?
Ich finde verbale Aggression total spannend, Sprache als Mittel, sich
zu Wehr zu setzen. Schimpfwörter kommen oft aus den Gruppen heraus, die
in irgendeiner Weise benachteiligt sind, und aufbegehren kann man
zumindest schon mal, wenn man «Fick dich» sagt. Beleidigungen brechen
immer mit Tabus. Solange es Ungerechtigkeiten gibt, wird es auch das
Bedürfnis geben, das sprachlich zum Ausdruck zu bringen. Schimpfen ist
etwas zutiefst Emotionales und Affektives.
Mit welchem Gefühl sollen die Zuschauer:innen nach Das Stillleben den Saal verlassen?
Mit einer Art Ambivalenz. Man kann sich sowohl in den Elementen von
Wut wiederfinden und sich gleichzeitig ertappt fühlen in der Figur, die
attackiert wird. Ein bisschen Frank haben wir alle in uns.