Was bedeutet für Autor*innen Gegenwart? Wie kann die heutige Welt beschrieben oder kommentiert werden? Welche Themen und Stoffe drängen sich auf und lassen sich zudem auf einer Bühne verhandeln? - Fragen, die sich das Theater Winkelwiese als Zentrum für zeitgenössische Dramatik fortan stellen wird und gemeinsam mit Schreibenden und dem Publikum in der Diskussionsreihe ZEITGENOSS:INNEN debattieren möchte.
In der vierten Veranstaltung dieser Reihe unterhielt sich die Autorin und Regisseurin Maria Ursprung mit der Gerichtsreporterin Brigitte Hürlimann über Gerechtigkeit, Gerichtsprozesse und Zweifel.
(Das Gespräch fand im Anschluss an die Vorstellung am 4.6.2023 statt und wurde in Ausschnitten transkribiert.)
Warum hast du, liebe Maria, dich dazu entschieden, den Strafprozess auf die Bühne zu bringen?
Ursprung: Diese Stückentwicklung hatte mehrere Gründe und Impulse: Einerseits wurde in der Pandemie der Zweifel bei mir zum Thema. Es gab so viele Situationen und Momente, in denen man nicht richtig wusste, wie man eine Entscheidung fällen sollte. Wem glaubt man jetzt? Der Regierung? Fremden Menschen im Internet? Der Wissenschaft? Meiner Mutter? Alle hatten eine Meinung und es war schwer, Entscheidungen zu fällen. Ich fand es interessant, wie wir uns gegenseitig auch immer in diese Zweifel gestürzt haben; dieses: «Ich habe gestern meine Cousine getroffen, jetzt ist sie heute positiv, soll ich trotzdem vorbeikommen?»
Andererseits ist das Theater Marie ein Aargauer Theaterproduktionsort. Und das Aargauer Obergericht stand einige Jahre lang stark in der Kritik, weil vom Schweizer Bundesgericht dort überdurchschnittlich viele Entscheide wieder aufgehoben worden sind. Das heisst statistisch gesehen waren entweder die Aargauer*innen sehr kriminell und man musste irgendwie gegen sie vorgehen; oder es wurde nicht sauber gearbeitet am Obergericht; oder die Richter*innen wollten politische Zeichen setzen. Dem wollten wir dann als Theater Marie Team nachgehen.
Deine Gedanken über den Zweifel und das Zweifeln sowie die Kritik am Obergericht Aargau haben dich schlussendlich in den Gerichtssaal geführt. Warum habt ihr euch das Strafrecht herausgegriffen?
Ursprung: «In dubio pro reo» bezieht sich auf das Strafrecht, was uns irgendwie interessiert und anzieht – wir thematisieren ja auch «True Crime»-Podcasts.
Warst du vorher schonmal in einem Gerichtssaal, bevor du dieses Theaterprojekt angepackt hast?
Ursprung: Nein. Und ich war auch sehr nervös, als ich im Laufe dieser Recherche das erste Mal in einem Gerichtssaal war – am Obergericht Aargau.
Was war das Thema?
Ursprung: Das war «Nötigung auf der Autobahn», «Verstoss gegen das Strassenverkehrsgesetz» und «Verstoss gegen das Waffengesetz».
Wurde er schuldig gesprochen?
(Ursprung überlegt…)
Das war also nicht der prägende Eindruck, den du von dieser Verhandlung mitgenommen hast. Erzähl uns, was waren die prägenden Eindrücke deiner ersten Verhandlung, deines ersten Strafprozesses?
Ursprung: Einerseits war für mich beeindruckend, wie ich mich gefühlt habe – das finde ich auch in deiner Rolle interessant –, weil ich sichtbar war. Ich habe eher unspektakuläre Strafprozesse besucht, wo eigentlich keine Zuschauer*innen hingehen; beispielsweise keine Mordprozesse. Mein Eindruck war: Ich wurde gesehen. Es wurde auf mich reagiert. Das fand ich irritierend oder ein bisschen unangenehm.
Vieles, was in die Inszenierung gefunden hat, hat mich da schon mitgeprägt. Man hat gesehen, dass der Beschuldigte sich gut darstellen wollte: Der hatte die schönsten Kleider an, seine Eltern waren mitgekommen, er hatte Support. Und er hat sehr oft betont, dass er heute ein anderer Mensch ist.
Ich glaube, dass viel gelogen wird vor Gericht. Und ich finde, manchmal spürt man das auch. Da war zum Beispiel die Situation, dass er von einem Richter gefragt wurde, warum er denn ein Butterflymesser dabei hatte, obwohl er schonmal wegen eines Butterflymessers angezeigt wurde. Und dann hat er gesagt, er braucht es zum Holzhacken. Das war beispielsweise wahnsinnig lustig, das ist mir geblieben.
(...)
Mich erstaunt, dass du dich unwohl gefühlt hast und dass dich irritiert hat, dass Menschen dich ansprechen oder dass du wahrgenommen wurdest. Warum war das so unangenehm für dich?
Ursprung: Ich versuche als Autorin nicht sichtbar zu recherchieren oder zu schreiben. Ich will verschwinden. In diesem Fall bin ich dann plötzlich ein bisschen involviert, nicht sehr involviert, aber ich komme auch vor im Raum, ich werde protokolliert.
Was ich aber im Nachhinein gut finde an diesem Sichtbarsein, ist die Rolle, die man einnimmt, wenn man eine Gerichtsverhandlung besucht. Das ist eine Rolle, in der man teilnimmt, Teil davon ist, und auch eine Rolle der Beobachtung von Richter*innen.
Genau: Indem du als Zuschauerin an der Gerichtsverhandlung teilnimmst, repräsentierst du die Öffentlichkeit. Das hat Menschenrechtscharakter, dass die Verhandlungen öffentlich sind. Also nimmst du eigentlich eine eminent wichtige Rolle ein, wenn du auf der Zuschauer*innenbank sitzt.
(...)
Ursprung: Wie wählst du deine Themen aus, deine Verhandlungen?
Ich gehe oft an Verhandlungen, bei denen ich damit rechne, dass es keine weiteren Zuschauer*innen hat und keine Journalist*innen. Ich bin sehr gerne allein mit den Prozessbeteiligten im Saal, das ist eine sehr intensive Atmosphäre. Es ist ganz anders, wenn 10-15 Journalist*innen im Saal sitzen. Gleichzeitig bin ich dann auch immer total frustriert, dass niemand an einer Gerichtsverhandlung teilnimmt, auch an Strafprozessen nicht. Das versteh ich nicht: Die sind öffentlich, die Türen stehen offen, aber niemand denkt dran, oder niemand nimmt sich die Zeit, oder niemand weiss, dass man da einfach reinsitzen könnte. Und, anders als bei dir, hab ich immer total Freude, wenn ich ins Gespräch komme. Mit irgendjemanden. Häufig mit den Beschuldigten, mit den Geschädigten, mit den Anwält*innen. Man kommt mit allen ins Gespräch und es gibt immer die erstaunlichsten Geschichten, die man hört, in diesen Ganggesprächen oder Pausengesprächen. Die einzigen, die nie da sind für Gespräche sind die Richterinnen und Richter. Das find ich schon sehr frustrierend, muss ich sagen.
(…)
Habt ihr bei den Pausen – weil das Gericht berät ja immer im Geheimen, da darf man nicht dabei sein, die Türen werden geschlossen – habt ihr euch dann überlegt, wie das Urteil ausfallen wird? Seid ihr dann in die Rollen der Richter*innen geschlüpft, um zu überlegen: wie würde ich das entscheiden?
(Die Schauspielerin Mirjam Japp nickt.)
Sie spielt die Richterin, sie hat das schonmal geübt.
Japp: Beim Obergericht Zürich habe ich mich schon gefragt: Wie entscheidet sie jetzt? Aber dann wurde mir sofort klar: Sie hat es schon verurteilt, sie hat es ja schon entschieden. Sie wird jetzt während des Plädoyers einfach überlegen, wie sie ihre Entscheidung begründen wird. Das war mein Eindruck. Ich weiss nicht, ob das so ist.
Wir haben diesen Eindruck auch oft, wenn wir vor Gericht gehen. Also, sie sind bestimmt vorbereitet auf die Verhandlung, aber eigentlich müsste man die Eindrücke am Prozess noch aufnehmen und auch in der Lage sein, ein vorbereitetes Urteil zu revidieren. Das ist etwas, was du im Stück erwähnst, und das ist total wichtig: Aus den Aktenbergen werden plötzlich Menschen. Also da sitzt ein Mensch vor dir. Und auch wenn der lügt, dann merkst du ja, da geht es um ganze Lebensgeschichten und ganze Familien. Und das sollte mit einfliessen in ein Urteil.
(...)
Hast du manchmal gedacht: Sprecht den doch frei? Oder: Muss der da jetzt erscheinen?
Ursprung: Ich habe kürzlich dein Interview zu Strafbefehlsverfahren gelesen, worin es darum geht, dass relativ viele Prozesse gar nicht stattfinden. Deshalb finde ich es schon wichtig, dass diese Prozesse stattfinden können. Aber es gab schon auch Prozesse, bei denen wir dann dachten: Das ist doch alles nicht so schlimm.
Ich lass mich als Zuschauerin in einer Gerichtsverhandlung auch manipulieren, weil ich dann vor allem das Plädoyer höre. Ich sehe diese beschuldigte Person, die beteuert, dass sie das heute nie mehr machen würde und das auch nicht wollte und nicht wusste. Und es gibt halt diese vielen Möglichkeiten.
Wir gingen zum Beispiel einmal im ganzen Produktionsteam zu Gerichtsverhandlungen und hatten gehört was die Beschuldigte gesagt hat und wie die Frau war, was ihr Rechtsanwalt gesagt hat, da dachten wir alle: Jetzt stellt euch nicht so an, die tut doch niemandem was. In diesem Fall waren aber die Geschädigten teilweise anwesend und die hatten das Bedürfnis, uns ihre Sicht zu erzählen. Danach waren wir hin und her gerissen. Weil die Geschädigten, die waren halt geschädigt, teilweise körperlich, und die hatten Angst. Wenn man an einer Gerichtsverhandlung nur die eine Position hört, lässt man sich auch dahin manipulieren, dass man denkt, das sei alles nicht so wild.
Das ist noch erstaunlich, weil in der Regel müsste ja die Staatsanwaltschaft auftreten und eben die andere Seite schildern, oder die Geschädigten haben auch die Möglichkeit, dass ein*e Anwält*in für sie spricht. Bei den meisten Verhandlungen, die ihr besucht habt, war das aber nicht der Fall?
Ursprung: Ja. Ich habe nur einmal die Staatsanwaltschaft live erlebt, sonst waren die immer abwesend.
(...)
Wenn du nun nach acht besuchten Prozessen verpflichtet würdest, eine der Rollen einzunehmen, die dort vorkommen – Richterin, Anwältin oder Staatsanwältin – welche Rolle würdest du übernehmen an einem Strafprozess?
Ursprung: Ich wäre wahrscheinlich Strafverteidigerin.
Viele von diesen längeren Texten im Stück sind aus Interviews entstanden. So habe ich unter anderem mit einem Rechtsanwalt geredet, der gesagt hat, er sei Rechtsanwalt geworden, weil er finde, man müsse den Schwachen zur Seite stehen. Das ist jetzt ein bisschen zugespitzt. Es geht um das Instrument, das die auch sind, jemandem zur Seite zu stehen gegen das grosse System. Wobei ich glaube, in der Staatsanwaltschaft arbeiten auch zu wenig Leute, weil die ja nie aufgetaucht sind, aber das ist wiederum was anderes. Staatsanwältin möchte ich nicht werden.
Das ist interessant, wie du den Job der Strafverteidigerin interpretierst aufgrund der Interviews, die du geführt hast. Aber ihr müsst euch bewusst sein: Erstens gibt es auch Menschen, die geben zu, dass sie etwas Schlimmes begangen haben, und zweitens kann es auch etwas wirklich, wirklich Schlimmes sein. Das ist etwas, was in der Bevölkerung fast nicht akzeptiert wird, dass auch ein Vierfachmörder von Rupperswil das Recht darauf hat, die beste Verteidigung zu bekommen.
Ursprung: Über die Rechtsanwältin dieses Vierfachmörders haben wir mit dem Rechtsanwalt geredet während der Recherche. Und er meinte auch: Die sei richtig angefeindet worden, die wäre auch gefragt worden, ob sie polizeilichen Schutz haben will, weil sie richtig Probleme kriegt.
(...)
Zu eurer Recherche: Ihr seid an acht Prozesse gegangen, mit wem habt ihr Interviews geführt?
Ursprung: Mit einem Rechtsanwalt, zwei Gerichtsschreiber*innen, mit zwei Richtern, wobei wir dann in der Recherche nur ein Interview davon benutzt haben. Das war’s schon. Die drei Positionen, die auch auf der Bühne vorkommen.
Und wie hat das deinen Eindruck vom Strafprozess mit der Zeit verändert, von Prozess zu Prozess und Gespräch zu Gespräch? Bist du anders in die Verhandlungen eingesessen mit der Zeit?
Ursprung: Ja. Wobei es vor allem mein Denken über das ganze System verändert hat und weniger mein Gefühl oder meine Gedanken während der Verhandlungen. Erstens war ich überrascht, wie stark das Aktenprozesse sind.
Das sieht man auch in der Inszenierung.
Ursprung: Die Richter, mit denen ich geredet habe, und auch die Gerichtsschreiber*innen, haben alle betont, dass sie sehr stark aufgrund der Akten entscheiden; dass sie eigentlich schon alles wissen. Und der Rechtsanwalt meinte auch, es gebe selten so hollywoodmässige Überraschungen, wo plötzlich noch jemand auftaucht und das Ganze rumreisst. Was manchmal stattfindet, ist, dass das Strafmass sich verändert in der Gerichtsverhandlung, aber was, glaube ich, ultraselten stattfindet, ist, dass jemand nur aufgrund der Verhandlung nicht schuldig gesprochen wird oder schuldig.
Und das war eine Überraschung für dich? Weil du geprägt bist von den Filmen, davon, was man im Fernsehen sieht? So stellt man sich die Gerichtsverhandlungen vor, diese flammenden Plädoyers.
Ursprung: Ja!
Wie war’s in diesen acht Prozessen? Gab es flammende Plädoyers?
Ursprung: Sie waren unterschiedlich. Teilweise recht lang. Teilweise schon flammend. Oder auch ein bisschen polternd, manchmal, voller Seitenhiebe. Die Plädoyers hatten einen hohen theatralen Wert, je nachdem, worum es ging: Zum Beispiel war ich bei drei Verhandlungen zum Thema «Verstoss gegen das Covid-19-Gesetz». Und da hat man bei den Verteidiger*innen gemerkt, die hatten Lust, so zu schiessen. Es war aufgeheizt. Es ging um wenig Geld, es ging eigentlich um Nichts. Aber es war irgendwie politisch und aufgeheizt.
Wenn ich deine Inszenierung anschaue, scheinst du im Prozess generell einige absurde und theatrale Dinge entdeckt zu haben.
Ursprung: Etwas, was mich überrascht hat, ist, dass diese Räume in der Schweiz wirklich so sind, wie man sie sich vorstellt aus den amerikanischen Filmen. Dass die Richter*innen in einer Machtposition sind, auf einem höheren Podest, und dass die Beschuldigten dann in der Mitte ausgestellt sind. Dass man ihre Beine sieht, dass die relativ offen beobachtet werden können im Gegensatz zu den Richter*innen, die eher hinter abgeschlossenen Bänken sind; die können sich mehr bedeckt halten, die können auch hinter Türen verschwinden. Ich hätte gedacht, die sitzen alle im Sitzungszimmer an einem grossen runden Tisch.
Was fand ich noch theatral? Wie die Richter*innen manchmal durch den Prozess führen. Manchmal kommunizieren sie möglichst offen und versuchen Transparenz zu schaffen, manchmal sind sie sehr direktiv: «Sie müssen jetzt nicht mehr reden, jetzt hören sie nur noch zu.»
Ich würde die Räume verändern. Mich stresst das auch, dass die Richter*innen so obernhaft im Podest sitzen und sich dann manchmal auch so benehmen. Erhaben und uns überlegen. Ich finde, das stimmt nicht. Sowohl die Prozessbeteiligten als auch ich, die die Öffentlichkeit repräsentiert, wir sind mit ihnen auf Augenhöhe. So sollten wir die Fälle auch behandeln. Das würde ich ändern. Ich wünsche mir, dass die Richter*innen vermehrt so mit den Beschuldigten sprechen würden, dass die Beschuldigten sie verstehen. Dass sie wirklich versuchen, dass ein Gespräch zustande kommt. Das kann man auch, auch wenn jemand etwas Schlimmes getan hat. Dann kann man diese Menschen in diesen zwei, drei, vier Stunden, oder an diesem Tag, die Möglichkeit eines Gespräches bieten. Das schaffen ganz wenige Richter*innen. Es geht immer auch um Effizienz, es muss schnell gehen, die Prozesse müssen schnell abgespult werden. Das würde ich verändern, dass es zwischenmenschlich besser funktioniert. Und dass man mehr Leute in den Prozess holt, wie Zeug*innen, Expert*innen, Sachverständige. Im Kanton Zürich findet das nicht statt, dass man die wirklich einlädt und dass sie im Gerichtssaal selbst nochmals ihre Standpunkte erläutern. Eben nicht nur auf die Akten verweisen und aktenbasiert entscheiden. Das ist ein bisschen eine Unsitte im Kanton Zürich.
Ursprung: Im Aargau auch.
Und das läuft in anderen Kantonen ganz anders. Ich war letzte Woche in zwei Prozessen im Kanton Bern, da wurden jedes Mal noch Zeuginnen und Zeugen befragt, das gibt eine ganz andere Atmosphäre, da hört man viel mehr Stimmen. Das find ich schade, dass es hier nicht stattfindet. Es wird einfach so durchgepeitscht. Das sollte nicht der Fall sein, für das geht es um zu viel.
Ursprung: Und ich finde auch, es ist viel zu föderalistisch. Das finde ich auch problematisch.
Zum Teil hängt es wirklich von der einzelnen Richterperson ab. Eine einzelne Richterin kann eine ganz andere Atmosphäre generieren in einem Gerichtssaal. Aber allzu häufig sitzen sie so ein bisschen zu steif und mechanisch da und spulen den Prozess ab. Und ich finde übrigens auch, die Gerichte müssten gastfreundlicher sein. Das geht mir auf die Nerven, wenn die so unfreundlich sind. Es fängt damit an, dass man die ID zeigen muss am Eingang, dass man die Tasche einsperren muss, dass es keinen Kaffeeautomaten gibt. Das ist ein Menschenrecht! Am Zürcher Obergericht, da bin ich auf die Barrikaden gegangen, als sie keinen Kaffeeautomaten in den öffentlichen Bereich hinstellen wollten. Zum Teil sind wir 10 Stunden pro Tag in diesem Gebäude. Da muss man sich irgendwie verpflegen können. Die Richter*innen, die haben alle ihre internen Cafeterias, aber die müssen sich auch überlegen, wie es den Menschen geht, die vor ihnen stehen. Um die muss man sich auch kümmern. Ich find, man kann freundlich sein zu den Leuten. Und zwar zu allen: zu den Besucher*innen, Journalist*innen und den Beschuldigten.
(…)
Ursprung: Haben Richter*innen bei deinen Artikeln eigentlich das Bedürfnis, zu reagieren?
Ich habe den leisen Verdacht, dass viele anonyme
Mitdebattierer*innen Richter*innen sein könnten. Sie haben grosse
Hemmungen, mit mir zu reden. Als Journalistin bin ich etwas
Gefährliches, potentiell jemand, den man meiden sollte. Sie suchen nicht
zwingend das Gespräch mit mir, ausser sie sind pensioniert. Dann werde
ich zum Mittagessen eingeladen, aber vorher nicht.
(...)
In deinem Stück übst du Kritik am Strafverfahren generell, aber stellst gleichzeitig fest: Die Bevölkerung, die will mehr Sicherheit, die ruft nach harten Strafen. Dann braucht es dieses Machtgehabe vielleicht doch. Oder wie könnte man das anders handhaben?
Ursprung: Ich habe zum Beispiel Mühe mit allem, was sich zum präventiven Strafen entwickelt. Das finde ich kritisierbar. Und ich finde schon, dass der ganze Strafvollzug in der Schweiz sich auch nochmal verändern könnte; da gibt es Länder, die weiter sind als wir. Das, was die Richterin am Ende des Stücks sagt, das hat dieser eine Richter gesagt, mit dem wir geredet haben. Mit dem habe ich geredet, da war er gerade seit einer Woche pensioniert und er hat so zurückgeblickt in diesem Gespräch. Und er meinte: Er hat schon grosse Zweifel an dem, was wir da machen, und vor allem an der Art des Strafens.
Und nach allem – nach den Recherchen, nach den Aufführungen, nach den Feedbacks, die du bekommen hast – wie siehst du das heute, was hat die Strafjustiz mit Gerechtigkeit zu tun? Wie hängen diese beiden Begriffe zusammen?
Ursprung: Dass im Aargau härtere Strafen fallen, dass es Unterschiede von Kanton zu Kanton gibt, zeigt, dass dieser Zusammenhang von Strafjustiz und Gerechtigkeit sehr individuell ist und sehr politisch. Ich glaub, es ist auch gesellschaftlich total beweglich und hängt immer von Meinungen ab, öffentlichen Meinungen. Es hängt davon ab, in welche Richtung hier gerade eine öffentliche Meinung geschürt wird.
Aber eigentlich müssten Richter*innen ja immun sein gegen öffentliche Meinungen. Ich weiss nicht, ob du die Richter*innen so erlebt hast? Was ich sehr witzig fand, war, dass du in einem Dialog immer die Parteizugehörigkeit nennst der Richter*innen. Das ist ja auch eine Anspielung, dass das in der Schweiz eine Rolle spielt. Wer wird Richter*in und was hat die Partei damit zu tun.