30.6.2023

Fadrina Arpagaus, Mathieu Bertholet

DRAMA PLAYERS #1: Mathieu Bertholet
Mathieu Bertholet
© Chloe Cohen

Mathieu Bertholet ist im Unterwallis aufgewachsen und hat, statt in Paris Theater zu studieren, seine besten Theaterjahre, wie er sagt, Ende der 1990er in Berlin verbracht. Das ist vermutlich einer der Gründe, warum er perfekt (und rasend schnell) Deutsch spricht. Seit acht Jahren leitet er das Théâtre POCHE/GVE in Genève, ein kleines Ensembletheater, das sich neuen dramatischen Texten verschrieben hat und sonst noch die eine oder andere Besonderheit aufweist, zum Beispiel eine starke Zuschauer:innenbindung und legendäre Dernierenfeiern. Als einer der wenigen Theatermacher aus der Romandie ist er regelmässig an Deutschschweizer Theatern anzutreffen. Mathieu arbeitet zurzeit mit dem Neumarkt in Zürich an einer Koproduktion, die im September Premiere hat. Zum sommerlichen Gespräch im Café Zähringer erscheint er bestens gelaunt und für einmal ohne seinen Hund Nietzsche.

Fadrina Arpagaus: Mathieu, was heisst eigentlich «Röstigraben» auf Französisch?

Mathieu Bertholet: Ich glaube, man sagt «Röstigraben» oder «Barrière de Rösti». Manchmal auch «La Sarine», das ist die Saane, der Fluss, der die Grenze zwischen Romandie und Deutschschweiz markiert. Aber ehrlich gesagt bin ich so sehr vom Deutschen beeinflusst, dass ich gar nicht genau weiss, was das französische Wort dafür ist.

Gibt es denn den Röstigraben in der Theaterwelt?

Ganz stark! Im Kulturbereich ist die Sprache der Motor, und deswegen ist überregionale Zusammenarbeit schwierig. (Zur Kellnerin: Zweimal Rosé mit Eis, bitte!). Im Theater ist es sogar noch schlimmer als anderswo, weil es nicht nur eine Sprach-, sondern auch eine Systemgrenze gibt. In der Westschweiz existiert keine Stadttheaterkultur, wir arbeiten hauptsächlich mit freien Gruppen, die sich für Produktionen zusammenfinden, und die beiden Systeme sind fast nicht miteinander kompatibel. Das ist aber auch der Grund, warum Verbindungen spannend sein könnten! Ich glaube, ich bin in der Schweiz der Einzige überhaupt, der das deutschsprachige Stadttheater so stark verteidigt. In der Deutschschweiz sprechen alle immer nur von überholten Strukturen und alten Hierarchien im Theater – aber ich sehe eine grosse Kraft in diesen Institutionen. Meine Arbeit in Genf bestand ja hauptsächlich darin, die Westschweiz davon zu überzeugen, dass Ensembletheater eine gute Sache sein kann (lacht).

Du leitest jetzt seit acht Jahren das POCHE in Genf – wie arbeitet ihr dort?

Wir haben einen richtigen Systemwechsel versucht: Nämlich ein Theater, das hauptsächlich mit freien Gruppen arbeitet, in ein Ensembletheater zu verwandeln. Ich war leider nie an einem deutschsprachigen Stadttheater engagiert und habe nur davon gehört, wie sie funktionieren – darum habe ich bloss ein idealisiertes Bild von einem Stadttheater. Ausgehend davon habe ich das POCHE in Genf umstrukturiert, mit viel Learning by Doing, Begeisterung und totaler Naivität. Ich habe meine Teams zu Tode erschöpft, aber die Mitarbeitenden waren alle gerne dabei. Wir haben ein Fünftel des Budgets vom Theater Neumarkt in Zürich, aber wir machen gleich viele Produktionen. Das heisst, wir mussten zum Beispiel die Ausgaben für die Bühnenbilder reduzieren und arbeiten jetzt mit einem Einheitsbühnenbild für die ganze Spielzeit, das sich auf einfache Weise umbauen lässt. Wir haben auch die Probenzeiten verkürzt und am Anfang eine Inszenierung jeweils nur drei Wochen lang geprobt – das war der totale Wahnsinn.

Wenn wir das mit der Deutschschweiz vergleichen, wo sechs bis sogar neun Wochen Probenzeit die Regel sind, glaubt dir das kein Mensch. Hat das System funktioniert?

Ja, immer besser! Weil wir in unseren Inszenierungen auch die Unabgeschlossenheit der Prozesse offenlegen. Wir arbeiten mit Zeichen des Unfertigen. Zum Beispiel lesen die Spieler:innen die Texte manchmal ab Notenständern und können sie nicht auswendig. Und ehrlich gesagt: Zu viel Probenzeit ist nicht immer produktiv. Stattdessen haben wir eine bezahlte Vorbereitungszeit und bezahlte Textlernphasen und können so sehr gezielt und fokussiert produzieren, als einziges ideales Stadttheater in der Westschweiz (lacht).

Wie wichtig sind für euch am POCHE neue Theatertexte? Ihr habt ja einen grossen Fokus auf zeitgenössische Dramatik – was interessiert dich daran, und wie förderst du neue Stücke?

Die Ausrichtung auf zeitgenössische Dramatik gehört zur Gründungsvereinbarung des POCHE. Aber was heisst «zeitgenössisch» denn eigentlich genau? Am Anfang haben wir nur Texte programmiert, die nicht älter sind als fünf Jahre, aber mittlerweile spielen wir auch «alte neue Dramatik» oder klassisch gewordene neue Dramatik, wie zum Beispiel Sarah Kane. Die neuen Dramatiker:innen entdecken wir über unser «Comité de Lecture», unseren «Leserat». Deswegen sage ich auch so oft «Wir», weil ich Dinge selten allein entscheide – und oft auch gegen meinen Willen (lacht).

Was ist der Leserat?

Das sind 15 Theaterleute, zum Beispiel Schauspielende, Bühnenbildner:innen und unsere «Artiste associée» – eine Art Hausregisseurin plusplusplus über vier Jahre. Dazu kommen stinknormale Zuschauer:innen. Manche Zuschauer:innen lesen wirklich 100 Stücke pro Spielzeit, meistens Frauen, oft Rentnerinnen, alles begeisterte Leserinnen.

Und wie funktioniert das dann?

Alle Beteiligten bekommen einige Stücke aus dem Pool zum Lesen, und wenn sie ein Stück gut finden, müssen sie es verteidigen. Je mehr Verteidiger:innen ein Stück hat, desto eher steigen seine Chancen auf eine Inszenierung. Am Ende des Prozesses schlägt uns der Leserat eine Liste von ca. 15 Stücken vor, von denen wir dann zwei bis drei pro Spielzeit produzieren.

Sind das immer Stücke aus der Romandie?

Nein, leider schmeisst der Leserat die Texte aus der Romandie meistens raus! (lacht.)

Warum?

Wir sind halt nicht so viele, und damit sinkt die Wahrscheinlichkeit auf gute Stücke.

Wie sieht denn die Dramatiker:innenförderung in der Romandie aus?

Es gibt die SSA (Société Suisse des Auteurs), aber die unterstützt leider das POCHE nicht. Sonst existiert keine richtige Dramatiker:innenförderung in der Romandie. Förderung bedeutet ja nicht nur, die Stücke zu spielen, sondern auch – wie es der DRAMENPROZESSOR tut – Begleitung der Schreibenden mit Mentoring und Netzwerkaufbau.

Beschäftigen Schreibende in der Westschweiz ähnliche oder ganz andere Themen als in der Deutschschweiz?

Ich kann da keine grundsätzlichen Unterschiede festmachen. Man kann aber Modeerscheinungen erkennen…

Zum Beispiel?

Ich würde sagen: Das Autofiktionale, das Epische im Sinne von Brecht, also die Arbeit mit Distanzierung und Verfremdung – und das Grafische. Das sieht man zum Beispiel bei Stücken von Thomas Köck: Der Text auf Papier ist durchgehend grafisch gestaltet und gibt dadurch eine bestimmte Lesart vor. Oder bei Pauline Peyrade: Sie macht sehr akribische Stunden- und Kilometerangaben oder nennt Strassenbeschilderungen, die den Text formal und grafisch strukturieren.

Ja, das stimmt, das findet man zum Beispiel auch bei Enis Maci, bei Selma Matter oder jüngst in Kian Amadeus H.s Dramenprozessor-Stück «Hund und Trägheit».

Es ist witzig, dass bei diesen Texten das Papier plötzlich wieder wichtig wird, obwohl wir in einer zunehmend dematerialisierten Welt leben!

In deutschsprachigen Theatertexten gibt es zudem einen starken Einfluss von (queer-)feministischen, dekolonialen, machtkritischen Diskursen und Theorien, deren Thesen und Perspektivierungen sich in den Stücken finden. Kannst du das in französischsprachigen Texten auch feststellen?

Nein, das ist aber nicht nur bei dramatischen Texten so, sondern auch in der gesamten Literaturszene und im Theater. Ihr habt in der Deutschschweiz einen starken macht- und diskriminierungskritischen Diskurs, der bei uns noch nicht angekommen ist. Aber ihr seid im Gegensatz zu uns sehr angelsächsisch geprägt.

Das ist interessant. Erinnerst du dich, wie wir im April dieses Jahres gemeinsam mit dem Dramenprozessor im Tessin bei unserem befreundeten Schreibprogramm Luminanza zu Gast waren? Da ist uns auch aufgefallen, dass die Tessiner:innen sich erstens in ihrem literarischen Bezugsrahmen sehr international orientieren und zweitens die ganzen macht- und diskriminierungskritischen Diskurse nicht so eine grosse Rolle spielen.

Ich kenne viele französischsprachige Autor:innen, die zum Beispiel von Heiner Müller oder Elfriede Jelinek stark beeinflusst worden sind. Das Suchen nach dem Formalen ist in Frankreich vermutlich stärker, in deutschsprachigen Texten hingegen das explizit Politische, das Inhaltliche. Jelinek kann man übrigens auch total gut übersetzen, weil ihre Texte, ihre Sprachteppiche, so formal sind.

«Tapis de language», oder wie nennt ihr das dann?

(Lacht) On dit ça, on dit ça! Oder vielleicht eher «Moquette de language», Moquette sind die Teppiche, die wir kilometerweise in Industrieanlagen haben, in Grossraumbüros, ein bisschen schäbiger. «Tapis» ist eher edel, aus Schurwolle, Kaschmir… «Moquette» hingegen ist synthetisch.

Also ist Jelinek für dich Synthetik?

Ja, definitiv. Es ist eine künstliche, erarbeitete Sprache. Auf jeden Fall kein Schurwollteppich!

Ne, aber einer mit Fusseln. Und wenn man ihn aufhebt, liegt Dreck darunter. Wie funktionieren denn am POCHE deutschsprachige Texte? Ihr hattet ja zum Beispiel Julia Haenni oder Katja Brunner im Spielplan.

Gut! Julia Haenni war ein grosser Erfolg, Katja Brunner hingegen gar nicht – aber wir lieben sie und produzieren sie trotzdem. Katja ist absolut unverschämt, und das finde ich unglaublich gut. Es ist In-yer-face-Theater in der Tradition von Sarah Kane, richtig wow – aber es hat bei uns gar nicht funktioniert.

Hast du einen Verdacht, warum?

Ihre Texte sind unerträglich, in einem guten Sinne! Ihr seid in der Deutschschweiz ja superwoke, wir aber nicht, in der Romandie sind solche Texte zu krass (lacht).

Mathieu, unsere Gläser sind bald leer, und ich habe noch drei kurze Fragen. Welches deutschsprachige Stück würdest du denn gern selbst inszenieren?

Katja Brunner oder ein Stück von Thomas Köck aus seiner «Paradies»-Trilogie, die ich auf Französisch übersetzt habe – aber dafür bräuchten wir eine viel grössere Bühne. Oder Alexander Stutz, dessen Sprache zugleich poetisch und unverschämt brutal ist. Oder Julia Haennis «Don Juan. Erschöpfte Männer». Oder eines dieser schweizerdeutschen Stücke, die man nicht übersetzen kann, weil man dann die Hälfte des Materials verlieren würde. Irgendwann, wenn ich dann gut genug Schwiizerdütsch spreche, mache ich das!

Und welche Theatertexte aus der Romandie sollen wir auf Deutsch übersetzen und spielen?

Pauline Peyrade – auch wenn sie keine Westschweizerin ist. Guillaume Poix, der ein Stück über Romy Schneider geschrieben hat, das viel über europäische Geschichte erzählt und ihren gescheiterten Versuch, Frankreich und Deutschland zu vereinen. Und von Antoinette Rychner gibt es einen tollen Theatertext, der im Jura spielt. Er ist sehr schweizerisch und ländlich verortet, wie es auch einige Deutschschweizer Autor:innen machen, zuletzt Anaïs Clerc mit «Brennendes Haus», das finde ich super.

Du bist nicht nur der Einzige, der das deutschsprachige Stadttheater verteidigt, du bist auch der einzige Romand, der tatsächlich immer wieder in die Deutschschweiz Theater schauen kommt –

Nein, nein, es gibt auch ein paar andere!

Die musst du mir mal zeigen. Gibt es Dinge, die dir an Deutschschweizer Theatern auffallen, Dinge, die du schräg oder lustig findest?

Ja! Ihr seid absolut nicht gesellig (lacht), ihr habt keine Ahnung von Gastfreundschaft. Eure Premierenfeiern sind lä-cher-lich (lacht noch mehr). Bei uns geht keine:r Hause, bis nicht alle todbetrunken sind, das versteht sich von selbst. Aber ich finde die Unterschiede witzig! Wie das Leben, so das Theater.

Was sollen wir denn tun, Mathieu? Weisst du Rat?

(Lacht) Ich würds selber machen! Wenn wir nicht fähig sind, das Theater zu verändern, wie sollen wir dann die Welt verändern? Trinkst du noch ein Glas?

Für die neue Gesprächsreihe DRAMA PLAYERS trifft die Dramaturgin Fadrina Arpagaus in losen Abständen Schweizer und internationale Akteur:innen, die zeitgenössische Dramatik fördern, vernetzen und zur Aufführung bringen. Die Gespräche drehen sich um die Frage, was Zeitgenoss:innenschaft im Theater bedeutet, was es braucht, damit neue Texte gut auf die Bühnen kommen und wie das Publikum auch etwas von diesem wildwüchsigen dramatischen Schaffen in der Schweiz mitkriegt.

Stück