Was bedeutet für Autor*innen Gegenwart? Wie kann die heutige Welt beschrieben oder kommentiert werden? Welche Themen und Stoffe drängen sich auf und lassen sich zudem auf einer Bühne verhandeln? - Fragen, die sich das Theater Winkelwiese als Zentrum für zeitgenössische Dramatik fortan stellen wird und gemeinsam mit Schreibenden und dem Publikum in der Diskussionsreihe ZEITGENOSS:INNEN debattieren möchte.
In der sechsten Veranstaltung dieser Reihe unterhielt sich die Autorin Julia Haenni mit der Geschlechterforscherin Dr. Andrea Zimmermann über Geschlechterverhältnisse, starre Strukturen im Kulturbetrieb und darüber, wie wir vom Reden ins Machen kommen.
(Das Gespräch fand im Anschluss an die Vorstellung am 31.10.2024 statt und wurde in Ausschnitten transkribiert.)
Dr. Andrea Zimmermann: Liebe Julia, ich freue mich sehr auf unser Gespräch. Wir haben uns bisher nur per Zoom getroffen, aber da schon gemerkt, dass wir ein grosses gemeinsames Thema haben: die Geschlechterverhältnisse in der Gesellschaft, im weiteren Sinne, aber auch im konkreten Sinne, im Theater. Uns geht es beiden um eine Kritik an den Positionen, die über Geschlecht zugewiesen werden. Die Frage, wie Geschlechternormen bestimmte Positionen bedingen, Aus- und Einschlüsse herstellen. Wie Machtverhältnisse strukturiert werden, die unser Arbeiten, unsere Lebensweise, unsere Körper eben auch durchziehen. Du übst diese Kritik an Geschlechternormen einerseits in deinen Texten, also auf der Bühne, andererseits beschäftigt dich die Geschlechterungleichheit und Ausschlüsse aber auch hinter der Bühne, also im Theaterbetrieb. Da dockt auch mein Forschungsprojekt an.
Ich würde mich gerne jetzt mit dir zu beiden Aspekten austauschen: Die Themen auf der Bühne und: Wie verbindest Du das mit den Strukturen im Theaterbetrieb, die du aus der persönlichen Erfahrung ja auch kennst? Welche Strukturen hast Du da im Blick? Und schliesslich haben wir heute Abend auch einen Eindruck bekommen in dein Arbeiten: Es ist auch eine spezifische Ästhetik, die dein Schreiben ausmacht und die Art und Weise, wie du deine Kritik artikulierst. Also wir haben hier viel vor ...
Haenni: ... und wenig Zeit. Wie immer! (beide lachen).
Zimmermann: Lass uns mit den Themen deines Schreibens starten. Welche Themen sind auf der Bühne präsent und woher nimmst du diese?
Haenni: Aus dem Leben! Dinge, die ich beobachte und wo ich das Gefühl habe, es ist wichtig, darüber zu sprechen, mir mehreren Leuten. Dann passiert es recht häufig, dass ich mir ganz viele Fragen dazu notiere, und die werden dann auch oft das Stück. Ich glaube, dass ist mit das Wichtigste, dass ich mit den Fragen nicht alleine sein und da ist das Theater ein toller Ort, um sich Antworten anzunähern oder überhaupt mal gemeinsam die Frage von einer anderen Seite zu betrachten. Ein super Ort, um sich wie unter einem Brennglas die Themen nochmal anzugucken, weil natürlich die Strukturen, die dort herrschen und die Dinge, die dort verhandelt werden, immer irgendwie repräsentieren, wie auch in der Gesellschaft Dinge verhandelt werden – oder eben nicht.
Zimmermann: Ich habe mich sehr damit beschäftigt, wer in deinen Stücken eigentlich mitspielt. Zumindest bei den drei Stücken, wo die «frau» im Titel vorkommt. Das fand ich irgendwie sehr schön, so ein Kollektiv einerseits anzusprechen und offen zu halten. Was passiert, wenn man ein Stück schreibt, wo man unter «Besetzung» «viele Frauen» hinschreibt?
Haenni: Ich muss vielleicht ein bisschen ausholen. Ich komme gerade von der ZHdK, wo ich jetzt selbst unterrichte, im Regiedepartement, da habe ich auch studiert vor vielen Jahren. Und gegen Ende habe ich mich gefragt, was ich für ein Diplomstück machen will. Sabine Harbeke, die das immer noch leitet, mich darauf hingewiesen, dass es viel zu wenige Stücke gibt, wo coole Frauenrollen vorkommen. Und ich dachte: Echt? Ist das wirklich so? Das kann doch nicht sein. Dann habe ich angefangen, mit ganz vielen Schauspielerinnen zu sprechen, die das alle bestätigt haben. Also habe ich ein Diplomstück gemacht mit fünf Frauen auf der Bühne und gedacht, das muss irgendwie weitergehen. Und dann kam frau im wald. Ich wollte einfach mal 15 Frauen auf der Bühne. Alle meinten, Julia, das ist schon cool und so und aktivistisch, aber es ist einfach nicht so klug. Niemand wird dein Stück kaufen oder es inszenieren wollen. 15 Leute, niemand besetzt das, weil die Theater andere Strukturen haben. Ich wollte dann nur umso mehr weitermachen, weil auch noch dazu kam, dass alle gesagt haben, tolles Stück, aber es sind Frauenthemen. frau im wald ist kein Frauenstück. Es geht um Überforderung, um Stress, darum, den Alltag nicht mehr handlen zu können. Das fand ich total schockierend, zu merken, es geht nicht auf, dass man einfach wechselt und sagt, okay, bisher war das allgemein Menschliche eben Hamlet, ein Typ, und er hat für alle gesprochen, und jetzt sind das Frauen. Und dann wurde ich radikalisiert, könnte man sagen.
Zimmermann: Aber es ist ja nicht nur so, dass es mehr Stücke mit mehr Rollen für Männer gibt, sondern es ist ja auch noch so, dass die Rollen oft in sich anspruchsvoller und spannender sind… Das Anschreiben gegen diesen wirkmächtigen Kanon ist eine sehr wichtige Aufgabe und ich finde das auch sehr bewundernswert, wenn auch Theaterbetriebe wie die Winkelwiese ihren Beitrag dazu leisten. (...) Was auch aus dem Blick gerät, ist, dass Frauen, die älter werden, sich in diesem Betrieb irgendwann nicht mehr wiederfinden können. Wenn man sich im Moment in den Ensembles umguckt, sieht man, dass Diversität tatsächlich vielerorts eine Rolle spielt, aber die Kategorie Alter in der Debatte unsichtbar bleibt, das finde ich sehr dramatisch.
Haenni: Na, dann ist halt sofort die Frage nach den Strukturen auf dem Tisch. In frau verschwindet, habe ich die Rolle einer mittelalten Frau reingeschrieben. Es gab eine Inszenierung, wo die Rolle mit einer älteren Person besetzt wurde. Dann wurde aber in so kurzer Zeit geprobt, mit so viel Zeitdruck und so viel Text, dass die Person irgendwann gesagt hat: Ich kann das nicht leisten, ich brauche mehr Zeit zum Text lernen. Das finde ich einfach ein super Beispiel für diese ganze Diversitätsdebatte. Alle wollen Diversität und das ist super. Aber es bedeutet eben auch, dass Strukturen sich verändern müssen, sonst ist es gar nicht möglich. Es gibt so viele wichtige Dinge, die einfach keinen Platz finden in der Theaterstruktur, so wie sie jetzt ist. Es wird immer wahnsinnig viel besprochen, aber tatsächlich ins Machen zu kommen, braucht viel Mut und den haben viele einfach noch nicht gehabt.
Zimmermann: Aber das fand ich einen schönen Aspekt im Stück heute Abend: Wir haben schon so oft darüber gesprochen. Ich glaube, dass wir an einem Punkt der rhetorischen Übersättigung sind. Die Leute haben das Gefühl, wir haben es doch jetzt besprochen. Es hat sich doch schon so viel verändert. Aber eben dieser Wandel hin zu anderen Strukturen hat eigentlich noch nicht stattgefunden. Und jetzt käme eigentlich dieser Moment, wo wir in die Umsetzung gehen, wenn wir wirklich Transformation hin zu einer faireren Praxis, zu geschlechtergerechterer Theaterstruktur wollen. Dann müssten wir jetzt anfangen, Dinge zu implementieren. Und das ist eben anstrengend und braucht Ressourcen.
Haenni: Ja, ich glaube, du hast was Wichtiges angesprochen mit den Ressourcen. Es ist ja nicht so, dass die Leute einfach Schisser sind oder so. Eigentlich müsste man sich mal ein Jahr lang mit dem Geld für eine Spielzeit Zeit nehmen, um diese Strukturen zu erdenken, zu diskutieren, Vertreter*innen aller möglichen Gruppen einzuladen und darüber sprechen, wie wir die Diversität hinkriegen. Und was brauchen wir alle, damit wir so arbeiten können? Aber das kann man nicht von heute auf morgen, es braucht Zeit. Und Zeit heisst einfach heute leider immer Geld. Und das ist eher schwierig im Theater.
Zimmermann: Transformationsprozesse brauchen einfach sehr lange. Wenn sich was verändern soll, brauchen wir einen langen Atem. Aber ich kann natürlich auch genau diesen Punkt nachvollziehen, der auch in frau heilt (party) sehr deutlich vorkommt: Will ich es denn immer wieder für alle aufbereiten? Oder was machen wir eigentlich mit der Wut, die manchmal aufkommt, über die Strukturen, die sich nicht verändern? Da stehst du ja sozusagen in der Tradition mit Virginia Woolf, die damit gerungen hat, wie sie ihre Kritik formulieren kann, damit sie von der Gesellschaft gehört wird.
Haenni: Diesen Aspekt hört man ja auch in der Rassismusdebatte von Betroffenen sehr oft: Jetzt bin ich die Vertreterin dieses Themas und ich muss es allen beibringen, beschäftige mich die ganze Zeit mit meinem Schmerz. Und das ist ja, wenn man es mal ein bisschen energetisch betrachtet, nicht unbedingt gut! So ging es mir für das Stück zum Beispiel mit dem Thema Endometriose. Man hat das Gefühl: Ich muss darüber sprechen, weil sonst spricht man nicht drüber.
Zimmermann: Und trotzdem ist es natürlich eine Anstrengung da, die Dinge immer wieder zum Thema zu machen. Etwas, das wir in unserer Forschung oft gehört haben war, dass viele, die in unterschiedlichsten Sparten in der Kultur arbeiten, sagen, sie würden sich wünschen, dass der Betrieb auf sie zukäme und fragen würde: Was brauchst du, um hier gut zu arbeiten? Dass sie sich nicht selber hinstellen müssen und sagen: Also ich habe übrigens Kinder und das heisst, es gibt Tage, an denen werde ich nicht so arbeiten können wie an anderen – sondern dass diese Frage gestellt wird, auf die dann geantwortet werden kann. Das fände ich, wäre schon ein wichtiger Perspektivenwechsel.
(…)
Gibt es denn Erfahrungen, wo du sagen würdest das war sehr schön? Was waren die Bedingungen dafür, dass so eine Zusammenarbeit wirklich gut geklappt hat für dich? Egal ob jetzt als in der Regie, in der Leitung, in der als Autorin.
Haenni: Vielleicht kann ich es vom Negativen her formulieren. Als ich als Regisseurin versucht habe, anders zu arbeiten, oder zumindest eine Art von Care-Situation zu erschaffen auf der Probe, wo so was wie Menstruationsschmerzen oder Krankheit irgendwie Platz hat, wurde mir klar, dass ich eben dann auch alles andere ändern muss. Sonst bleibt einfach das meiste auf den Schultern der Regieposition hängen, weil alle finden, sweet, dass sie nach Hause gehen können, aber ich muss mich fragen: Fuck, was mach ich jetzt? Ich habe noch fünf Tage Zeit, dann ist die Premiere. Das ist ein wahnsinniger Druck. Letzte Woche hat ein Kollege von mir was wirklich, wirklich Tolles vorgeschlagen, nämlich, dass man so was wie Puffertage einbaut. Das fand ich mega geil. Weil es ist immer irgendetwas. Leute sterben, Leute werden krank. Leute haben Fehlgeburten. Leute gebären. Die ganze Zeit passieren krasse Sachen. So könnte man einfach besser reagieren und sagen: Gut, dann fällt heute die Probe aus. Das würde ich gerne mal ausprobieren. Und ich glaube auch, weniger Proben ist manchmal mehr. Also weniger, aber besser vorbereitet. Bei Studierenden beobachte ich zum Beispiel, dass sie sich sehr mit diesen Fragen beschäftigen und schon mit so einer Awareness ins Studium kommen, die wir überhaupt nicht hatten. Aber manchmal geht es so sehr darum, wie sich alle fühlen - überspitzt gesagt - dass die Kunst zweitrangig wird, dass man gar nicht in einen Arbeitsmodus findet. Da habe ich wirklich Fragezeichen, wie man das schaffen kann.
Zimmermann: Aber vielleicht geht es auch um eine Art von Einüben von der Haltung und der Praxis von Sorge und Selbstsorge. Dass wir diesem Bild etwas entgegenbringen, dem wir im Kulturbetrieb so oft begegnen, wo alles, was uns ablenkt von der Kunst, unsichtbar gemacht werden muss. Essen und schlafen muss ich zwar, aber das müssen die anderen vielleicht nicht mitkriegen, alle sagen: Ich arbeite vor allem für meine Kunst und ich bin kreativ und das ist alles. Ich glaube, das ist unglaublich schwer, weil wir denken, wenn wir gute Künstler*innen oder Kulturschaffende sein wollen, müssen wir diesen Vorstellungen entsprechen.
Haenni: Das ist halt alles auch eine menschliche Logik: Wir müssen immer fit sein, wir müssen immer Erdbeeren essen, egal ob Winter, Sommer, alles, was nicht linear ist, ist nicht fassbar. Warum muss es immer gleich sein? Wenn es im Winter -10 Grad ist und fünf Stunden hell am Tag, hat man doch ein anderes Energielevel als wenn es 30 Grad ist. Wir arbeiten aber immer gleich viel und immer. Wenn ich versuche, das anders zu machen und meine Arbeitszeiten nach meinem Zyklus zu richten, komme ich aber immer in Konflikte, weil die Arbeitswelt halt ganz anders funktioniert.
Zimmermann: Deswegen beharre ich auf diesen Geschlechternormen und den Idealen, die da im Hintergrund stehen; auch in der Medizin. Dieser Blick auf einen männlichen Normkörper, wo ganz vieles rausfällt. Es wird nur ein Bruchteil wirklich abgebildet, aber wir tun so, als wäre es der Mensch. Ich mache diese Erfahrung mit der quantitativen und der qualitativen Forschung. Mit Tortendiagramm und Balken und Kurven und so, bekommt man immer grosse Aufmerksamkeit. Da wird mir schneller zugehört bei auswertungsintensiven Interviews, wo es eher um die biografischen Erfahrungen geht. Denn das sind ja einzelne, das kann man nicht so verallgemeinern. Wir sind auf eine Art der Darstellung gepolt, wenn es darum geht, was als objektives Wissen rüberkommt was subjektiv eingefärbt ist, emotional, was auch immer.
Haenni: Das kommt ja im Stück auch rüber - hoffentlich - dass dieser Mythos immer hochstilisiert wurde: Die Frau ist emotional und das, was sie sagt über ihren Körper, ist emotional, also mit Vorsicht zu geniessen. Nicht gut, nicht objektiv, kann man nicht mit arbeiten. Mit Kuchendiagrammen schon.
Zimmermann: [lacht] Genau! Was ich sehr spannend fand an dem Abend, war die Pause innerhalb des Stücks. Die Unterbrechung. Was hat es damit auf sich?
Haenni: Da steckt auch die Frage vom Linearen dahinter, dass alle immer arbeiten müssen in unserem ausser Rand und Band geratenen Wirtschaftssystem. Und immer mehr Leute sagen erfreulicherweise dann auch mal, so, Moment, ich brauche eine Pause. Pause ist dann aber immer noch was total Negatives. So, wie wir gross geworden sind in diesem System, müssen wir lernen, dass man mal eine Pause machen darf und dass das vielleicht sogar einfach dazugehört. Dass man die sich irgendwie erobern muss und sie vielleicht auch erstmal unangenehm ist auszuhalten. Hier sind ja auch Leute rausgelaufen...
Zimmermann: Also das finde ich eben auch in ästhetischer Hinsicht so interessant, weil in dem Stück die ganzen grossen Erzählungen kommen über die Religionen, über die Psychoanalyse, all die grossen Wahrheiten über die Weiblichkeit sozusagen. Aber die Frage ist auch, wie können wir aus diesem Wiedererzählen und diesem Rekonstruieren dessen, wie Frau definiert wird und wie Weiblichkeit hergestellt wird, herauskommen? Und da finde ich genau diesen Moment von Unterbruch interessant, weil es auch ein Moment sein kann, wo sich Dinge einfach mal in Frage stellen. Dass die Erzählung nicht einfach weitergeht.
Haenni: Ja, wie kann ich überhaupt mal reflektieren, wie es anders sein könnte, wenn ich gar keinen Break habe? Deswegen funktioniert das System ja auch so gut, weil niemand hat Zeit, um über die Revolution nachzudenken. Ich glaube, da liegt auch die Veränderung drin. Also sozusagen: A Room of One’s Own - and a little break.
Zimmermann: In deinem Stück kommt also zunächst die Rekonstruktion der grossen Erzählung. Dann machen wir die Unterbrechung. Ist es dir auch ein Anliegen zu sagen, was dann passiert?
Haenni: Ja, ich habe Ideen für matriarchale Strukturen, aber ich finde es total schwer, das als Einzelperson zu beantworten. Aber mit dem Stück habe ich versucht, zumindest ein paar poetische Ideen, vielleicht ein paar Bilder mitzugeben.
Zimmermann: Auch die Idee vom Zusammen in deinem Stück finde ich sehr schön. Das Miteinander, diese Momente von Begegnung, die auch in diesen anstrengenden Strukturen trotzdem stattfinden. Und so Abende wie heute Abend, die man zusammen erleben kann. Danke dir dafür und für das schöne Gespräch.
Haenni: Danke für die Einladung.