Drei Dinge lassen sich über Heidelberg am letzten April-Wochenende 2024 sagen:
1. Schlange stehen in der Altstadt ist The Thing to Do.
2. Sport schlägt Theater (zumindest zahlenmässig).
3. Es ist unleugbar Frühling.
Ja, die Menschen stehen Schlange, entweder vor einer der mindestens 50 Eisdielen in der hübschen Altstadt, vor dem Finish des laufenden Stadt-Marathons, und, etwas weniger auffällig, vor dem «Zwinger», der Studiobühne des Theater Heidelberg, wo traditionell die Autor*innenlesungen des Heidelberger Stückemarkts stattfinden. Das Festival zeigt, in eigenen Worten, seit 1984 die «Avantgarde des Theaters» und «herausragende Uraufführungen aus dem deutschsprachigen Raum» als Gastspiele. Sechs neue Theatertexte werden jedes Jahr von einer Jury für den Autor*innenwettbewerb ausgewählt und vom Heidelberger Ensemble in einer Strichfassung von jeweils 40 Minuten gelesen. Das ist alles so pur und klassisch gehalten wie nur möglich: Die Spieler*innen sitzen face-to-face mit dem Publikum vor einem nackten Tisch, vor ihnen das Textbuch und ein Wasserglas. Minimalinvasive szenische Eingriffe wie das pantomimische Abfeuern einer Knarre oder das Imitieren von Carrera Bahn-Geräuschen fallen geradezu als «Inszenierung» auf. Doch die nüchterne Einrichtung funktioniert: Die Texte werden plastisch und konkret, eröffnen übers Ohr eine Welt. Die Luft im Raum ist dünn, das Interesse gross.
Eine, die ihren Text am Wettbewerb präsentieren kann, ist die letztjährige DRAMENPROZESSOR-Absolventin und jetzige Hausautorin an den Bühnen Bern, Anaïs Clerc. «Da, wo ich herkomme, gibt es mehr Kühe als Menschen», sagt sie im Autor*innengespräch mit Dramaturgin Lene Grösch nach der Lesung von «brennendes haus», und das klingt fast ein bisschen wie die ersten Zeilen ihres im DRAMENPROZESSOR entstandenen Textes, halt nur etwas prosaischer. (da wo ich herkomme fallen die krähen vom himmel weil sie die gerüche nicht ausstehen können, heisst es da.)
Anaïs’ Stück verhandelt eine Schweizer Familiengeschichte, die von ländlicher Armut, Klassenaufstieg und sexuellem Missbrauch erzählt. Eingebettet ist sie in den Kontext der «Verdingung», ein staatliches System fürsorgerischer Zwangsmassnahmen, das einem deutschen Publikum erst einmal nicht geläufig ist. Doch die politische und persönliche Dringlichkeit des Texts wird im Nachgespräch dennoch klar.
Es ist ein Merkmal des Wettbewerbs, dass die präsentierten Stücke seismografisch wirken: Ganze drei kreisen um aufkommende faschistoide Tendenzen in Europa. In Lars Werners «Die ersten hundert Tage» treffen sich vier beste Freund*innen, deren Wege sich politisch getrennt haben. Während drei von ihnen im tschechischen Exil leben, weil sie als queere oder migrantisierte Menschen im Widerstand in Deutschland akut gefährdet sind, arbeitet der vierte jetzt für ein hetzerisches Boulevardblatt. Und ausgerechnet der will etwas von den anderen. In Arad Dabiris «DRUCK!» kommt Dadash wegen einer Bagatelle ins Gefängnis. Seine Geschwister und seine Freunde mit verschiedenen Nazi- oder Migrationshintergründen reagieren kontrovers darauf – und machen im freundschaftlichen Konflikt eine österreichische Gegenwart greifbar, die von Integrationsdruck, offener Diskriminierung und fehlender Vergangenheitsbewältigung geprägt ist. Das (20-köpfige!) Künstler*innenkollektiv Frankfurter Hauptschule überrascht mit einem Text, der aus 2 x 241 Titeln, «2 x 241 Titel doppelt so gut wie Martin Kippenberger», besteht. Das Stück arbeitet mit einem Vokabular, das provoziert, weil es rechte Rhetorik und Bilder teils subversiv unterwandert, teils aber auch explizit aufruft und reproduziert. Julie Guigonis’ «ghostbike», für ein junges Publikum geschrieben, ist ein fantastischer Ritt durch eine Nacht zur Erinnerungsgeburtstagsfeier für einen toten Freund, und Leonie Ziem macht in «Kind aus Seide» nochmals ein ganz anderes Thema auf: Liebesbeziehungen mit selbstermächtigten queeren Sexrobotern. Alles gegenwärtig, alles kompliziert.
Heidelberg vibriert an diesem Festivalwochenende, und das liegt nicht nur am Frühling. Neue Theatertexte ziehen hier Publikum an – zwar nicht unbedingt ein in allen Kriterien diverses, aber definitiv eines, das im Hinblick auf Alter komplett durchmischt ist. Der Stückemarkt ist in der Stadt so präsent wie die Eisdielen: Ganze Fahnenreihen flattern am Bismarck-Platz, die Hauptstrasse wird flankiert von einer Laternen-Plakatparade, gesprayte Logos und um die Schulter gehängte violette Tote-Bags weisen die Wege ins Theater. Auf dem Theaterplatz spielen Bands, die Menschen stehen und sitzen draussen, schaukeln Kinderwagen, trinken Bier. Der Heidelberger Stückemarkt ist ein etabliertes 10-tägiges Festival, das in die Stadt hineinwirkt und diesen besonderen Festival-Spirit schafft, bei dem sich ungefähr ab Tag 3 die Theatergänger*innen beim Wandern zwischen den Spielstätten und Aufführungen in den Gassen lächelnd wiedererkennen.
Für die Autor*innen, die zum Wettbewerb eingeladen sind, ist das Festival aber mehr als ein lockeres Netzwerktreffen: definitv auch eine Konkurrenzsituation. Plattformen wie der Heidelberger Stückemarkt sind essentiell, um als Theaterautor*in wahrgenommen, gelesen und gespielt zu werden. Der Markt ist klein und der DRUCK! nicht nur in Arad Dabiris Stück gross. Es fällt auf, dass alle sechs Autor*innen keine Absolute Beginners oder Zufallstreffer in der Auswahl sind: Sie alle absolvier(t)en eine Ausbildung in Szenischem Schreiben oder haben ein Förderprogramm durchlaufen. Auch der Einreichprozess ist nicht niederschwellig, vorgeschlagen werden können die Texte ausschliesslich von Theatern, Verlagen oder Ausbildungsstätten. Wer in Heidelberg lesen kann, ist also, wenn nicht schon in der Szene angekommen, auf jeden Fall auf dem Sprungbrett hinein. Und das Festival ist unter dem Strich das, was es ehrlich ankündigt: ein Markt. Ein Markt, auf dem es nebenan auch mindestens 30 Sorten Eis zu kaufen gibt.